Die Mauer trennte nicht mehr Ost- und West-Berlin. Eine neue Zeit war angebrochen. Erstmals konnten sich nun auch Menschen mit Behinderungen frei begegnen: der Telebus-Fahrdienst brachte nun „Rollis“ aus dem Westteil der Stadt in den ihnen völlig unbekannten Ostteil Berlins – und umgekehrt.
Schnell wurde klar, dass das größere Stadtgebiet mit weitaus mehr Fahrdienstberechtigten nicht mit dem Fuhrpark und dem Etat, welcher ursprünglich nur für die halbe Stadt gedacht waren, bedient werden konnte. Es kam zu immer höheren Eigenbeteiligungen, zu neuen Betreibern. Das Angebot wurde minimiert. Wer dazu in der Lage war, sollte den öffentlichen Nahverkehr nutzen, der sehr schnell in der gesamte Stadt vereinheitlicht wurde. Andere „Rollis“ und ich staunten über die vielen durch zementierte Rampen barrierefreien S- und U-Bahnhöfe in Ost-Berlin, das hatten wir „Wessis“ nicht. Das (von den „Spontis“ in West- Berlin hart erkämpfte!) Aufzugsprogramm der BVG für die U-Bahnhöfe und das der S-Bahn wurde umgehend auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet, barrierefreie Busse fuhren nun auch in den östlichen Bezirken, die Straßenbahnen kamen später hinzu. Das hatten zuvor die „Ossis“ nicht. So wuchs recht schnell rein räumlich zusammen, was zusammen gehört.
Wessi trifft Ossi
Im Westteil Berlins gab es den sozialen Wohnungsbau, eine Wohnungsbauförderung, die auch die anteilige Erstellung von völlig barrierefreien Wohnungen für Menschen im Rollstuhl mit einbezog. Diese Rolli-Wohnungen wurden (West-) Berlin weit zentral verwaltet und vergeben. Mühsam hatten sich die behinderten Menschen im Westteil der Stadt eine Bauordnung erstritten, die Barrierefreiheit weitgehend sicherstellte. Unsere „bewußtseinsbildenden Maßnahmen“ (Demos, Blockaden, illegaler Rampenbau usw.) hatten bewirkt, dass die Politik uns behinderten Menschen gegenüber relativ aufgeschlossen war. Wir fanden Beachtung. Das änderte sich leider sehr schnell, als die ersten Flüchtlinge aus der DDR über Ungarn nach (West-Berlin) kamen und Frau Sozialsenatorin Stahmer Anderes im Kopf und zu erledigen hatte, als sich um Menschen mit Behinderungen und ihre Forde- rungen zu kümmern. Plötzlich waren wir unwichtig, die Weltgeschichte lies der Behindertenbewegung einige Zeit lang keinen Raum. Es folgte die „Wende“ und viele Plattenbauwohnungen im Osten standen leer. Die Politik ging jetzt davon aus, dass es genug Wohnraum in ganz Berlin gäbe, eine Wohnungsbauförderung sei nicht mehr angebracht. Seither werden keine Rolli-Wohnungen mehr gebaut! Auch in Ost-Berlin wurden zu Zeiten der DDR gute barrierefreie Wohnungen erstellt. Über das Programm und über die Vergabe kann ich als „Wessi“ nichts sagen, aber all das war nach dem Untergang der DDR ebenfalls vorbei. Nun werden weder im Osten noch im Westen der Stadt ausreichend barrierefreie Wohnungen gebaut. Diese Angleichung der Verhältnisse bewirkte, dass heute in Berlin zirka 41.000 geeignete Wohnungen fehlen! Generell wurden nach der „Wende“ behindertenpolitisch jeweils das Sparsamste und der „kleinste gemeinsame Nenner“ aus der jeweiligen alten Zeit übernommen und zusammengefügt.
Anfang der 90iger Jahre trafen politisch tätige Menschen mit Behinderungen aus Ost und West zu- sammen, Mitglieder des Spontanzusammenschlusses Mobilität für Behinderte und andere Selbsthil- fevereine und -gruppen lernten die Ziele, Ideen und Handlungsweisen des Berliner Behindertenverbandes kennen – und umgekehrt. Vieles war uns gegenseitig fremd und es wurde erst mal misstrauisch hinterfragt, was der Andere wollte. Waren wir „Besserwisser-Wessis“, weil wir keine neuen Heime und nicht noch mehr Sonderschulen wollten? War es möglich, das System der Volkssolidarität, der Polikliniken und der gegenseitigen (kostengünstigen) solidarischen Unterstützung aus dem Osten hinüberzuretten in das vereinte Berlin? Was war eine „Rote Socke“? War es wirklich gut, alles unter dem wirtschaftlichkeits- und dem finanziellen Aspekt zu betrachten? Wir lernten sehr viel voneinander, waren uns absolut nicht immer einig, und es dauerte eine geraume Zeit, bis zusammenwuchs, was zusammengehört.
Der Berliner Behindertenverband (BBV) wurde bereits im Januar 1990 ein eingetragener Verein. Schnell musste sich auch juristisch umorientiert werden, denn das westliche Vereinsrecht wurde den neuen Bundesländern übergestülpt. In dieser Zeit kannte ich den BBV und seine Aktivisten, die nun Vorstandsmitglieder wurden, persönlich noch nicht. Aus privaten Gründen hatte ich mir von allen behindertenpolitischen Aktivitäten vorübergehend eine Auszeit nehmen müssen, ich stieg erst wieder Anfang des 21. Jahrhunderts voll in die Szene ein.
Aber wo war sie denn, die „Szene“? Die Cocas e.V. waren inzwischen völlig unpolitisch und nur noch freizeitorientiert geworden. Beim Spontanzusammenschlusses Mobilität für Behinderte herrschte auch (vorübergehende) Flaute und so zog es mich hin zum BBV e.V., der mit Ilja Seifert als Vorsitzender sehr gut aufgestellt und aktiv war. Ich hatte von der Berliner Behindertenzeitung gehört und hielt sie nun erstmals in den Händen. Ich bewunderte die Aktion mit Horst Lemke, der sich mit einem Kran am Rathaus Lichtenberg mit seinem E-Rolli hochheben lies, um einen Antrag durch`s Fenster zu reichen! Denn das Rathaus war nicht barrierefreie nutzbar. Das waren Aktionen nach meinem Geschmack. Das waren die „bewusstseinsbildenden Maßnahmen“, die ich aus Erfahrung als wirklich wirkungsvoll einschätze.
So wurde ich Vereinsmitglied, schrieb Artikel für die BBZ, ließ mich in den Vorstand wählen und trat 2011 die Nachfolge von Ilja Seifert an, als 1. Vorsitzende des BBV. Diese Position füllte ich nicht wirklich aus, schon gar nicht im Vergleich mit meinem dominanten und stadtbekannten Vorgänger. Aber es saß niemand anderes bereit für dieses Amt und so konnte ich helfen, die Zeit zu überbrücken, bis Dominik Peter mich in dieser wichtigen, tragenden Funktion ablösen konnte.
Die behindertenpolitischen Probleme wurden nicht geringer, eher größer in den letzten 25 Jahren. Es gab und gibt aktuell große Rückschritte, denen wir mit allen unseren Kräften begegnen müssen. Das Bedarfs-Kneeling bei den BVG-Bussen konnten wir erfolgreich verhindern, den Wegfall der 2. Rampe an der vorderen Tür der Busse leider nicht. Mobilitätshilfsdienste werden reduziert, Inklusion in der Schule kommt nicht wirklich voran, denn es gibt sie nicht zum 0-Tarif und Geld hierfür wird nicht ausreichend bereit gestellt. 90% aller Schulgebäude sind nicht barrierefrei! Und daran wird sich auch nichts ändern! Denn die Bauordnung Berlins soll „vereinfacht“ werden. Das wirft die bauliche Barrierefreiheit um ca. 25 Jahre zurück! Wenn es uns nicht gelingt, die Katastrophe zu verhindern.
Darum ist der BBV in Berlin heute so wichtig, wie vor 25 Jahren. Heute vertritt er seine Mitglieder in allen Bezirken der ganzen Stadt, Osten und Westen sind nur noch geografische Begriffe, keine politischen Abgrenzungen mehr. Es ist zusammengewachsen, was zusammen gehört.
Berlin wurde größer – und der BBV wuchs mit.
Möge er weiter wachsen und gedeihen! Möge er kreative Aktionen durchführen und viele Aktivisten in seinen Reihen haben. Denn es gibt viel zu tun. Der BBV e.V. packt es an.
Herzlichen Glückwunsch zum 25. Jubiläum. Alles, alles Gute für die nächsten 25 Jahre.
Zur Person: Bärbel Reichelt ist seit vielen Jahren in der Behindertenpolitik aktiv. Seit vielen Jahren ist sie Vorstandsmitglied im Berliner Behindertenverband. Von 2011 bis 2013 war sie sogar Vorsitzende des Berliner Behindertenverbandes.