Antrag der Linksfraktion im Bundestag – Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten

Änderungen am Bundesteilhabegesetz werden eingefordert

von: Berliner Behindertenzeitung

BTHGGemessen an den Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention, den Forderungen von Expertinnen und Experten in eigener Sache sowie an den selbst formulierten Zielen der Bundesregierung, hat der vorliegende Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz seinen Namen nicht verdient. Daher fordert DIE LINKE eine grundlegende und menschenrechtskonforme Überarbeitung und die sofortige Verwirklichung einiger guter Regelungen.

Den Antrag „Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten“ der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag können Sie hier lesen:

 

Deutscher Bundestag Drucksache 18/10014

18. Wahlperiode

Antrag

der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Ralph Lenkert,
Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau) und der Fraktion DIE LINKE.

Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Jahr 2013 haben die Parteien der CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag die Erarbeitung eines Bundesleistungsgesetzes angekündigt, um ein modernes Teilhaberecht zu schaffen. Die Menschen mit Behinderungen sollten aus dem „bisherigen Fürsorgesystem“ herausgeführt werden. Der Bund sollte sich an den Kosten der Eingliederungshilfe stärker beteiligen. Ländern und Kommunen sollten durch das Bundesteilhabegesetz keine zusätzlichen Kosten entstehen.

Der im Jahr 2016 von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf Bundestagsdrucksache 18/9522 missachtet die Positionen und Kernforderungen der Menschen mit Behinderungen, ihrer Selbstvertretungsorganisationen und Vereine, von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden und von Gewerkschaften, Schwerbehindertenvertretungen sowie der Wissenschaft. Bundesweite Aktionen und Proteste nehmen zu. In zahlreichen kritischen Stellungnahmen wird erheblicher Änderungsbedarf formuliert. Den sechs gemeinsamen Kernforderungen des Deutschen Behindertenrates zum Bundesteilhabegesetz schlossen sich bis heute mehr als 140 Organisationen, Vereine und Verbände an.

Zu diesen Forderungen zählen beispielsweise eine bundesweit einheitliche Gewährleistung und Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen, um einheitliche Lebensverhältnisse zu sichern. Die Regionalisierung der Ausgestaltung von Teilhabeleistungen abhängig vom Bundesland wird demnach strikt abgelehnt.

Die durchgängige menschenrechtliche Ausgestaltung des Bundesteilhabegesetzes sowie die korrekte und vollständige Übernahme des Behinderungsbegriffs der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ins Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und alle anderen betroffenen Gesetze müssen nachgeholt werden. Dies ist im vorliegenden Entwurf nicht gewährleistet. Im Gegenteil bewegen sich fast alle Neuregelungen im alten Fürsorgekonzept der Sozialhilfe und heben Verbesserungen nicht nur auf, sondern führen zu direkten Verschlechterungen.

Der leistungsberechtigte Personenkreis wird faktisch eingeschränkt. Wer Leistungen der geplanten neuen Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen möchte, muss laut Gesetzentwurf (§ 99 SGB IX) nachweisen, selbst in mindestens fünf von neun Lebensbereichen ohne personelle oder technische Unterstützung nicht teilhaben zu können oder dies in mindestens drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung nicht zu können. Eine mögliche Ausnahmeregelung erhöht nur die Unsicherheit und Abhängigkeit vom Wohlwollen der amtlichen Entscheider.

Diese Regelungen würden einen wesentlichen Teil der bisher leistungsberechtigten Menschen von den notwendigen Leistungen ausschließen. Davon betroffen wären Menschen, die beispielsweise nur in einem Lebensbereich (wie z.B. eine blinde Studentin beim Erfassen von Texten) Unterstützung benötigen oder auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, deren Unterstützungsbedarf oft zeitlich schwankt.

Teilhabeleistungen in der geplanten neuen Eingliederungshilfe werden teilweise nachrangig gegenüber Pflegeleistungen gestellt. Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen können sich auch aus fehlender Teilhabeorientierung im Dritten Pflegestärkungsgesetz und ungelösten Schnittstellen zu anderen Sozialgesetzbüchern wie der Pflegeversicherung (SGB XI), der Hilfe zur Pflege (SGB XII) und der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) ergeben.

Zukünftig sollen Teilhabeleistungen an mehrere leistungsberechtigte Menschen – auch gegen ihren Willen – gemeinsam erbracht werden können. Wer dieses von Betroffenen sogenannte „Zwangspooling“ ablehnen will, muss faktisch dessen Unzumutbarkeit beweisen.

Nicht nur diese Regelung schränkt die Selbstbestimmung sowie das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen stark ein, statt sie zu stärken und zu fördern. Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen befürchten zu Recht, dass sie in Zukunft noch weniger bestimmen können, wo, wie und mit wem sie leben möchten. Eine gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen – wie es die UN-BRK ermöglichen und gewährleisten möchte – würde in weite Ferne rücken.

Die Anrechnungsgrenzen für Einkommen und Vermögen bei Gewährung von Teilhabeleistungen werden zwar angehoben, aber nicht abgeschafft. Dies steht im Widerspruch zu der menschenrechtlich verbrieften selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen.

Auch die Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte sieht in dem Gesetzentwurf einen Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere Artikel 19. Ein Rechtsgutachten im Auftrag des Arbeiter-Samariterbundes zweifelt die Grundrechtskonformität des Gesetzentwurfes an.

Der vorliegende Gesetzentwurf muss im Lichte der UN-BRK als Rückschritt bewertet werden. Darüber hinaus würde eine fundierte Umsetzung vor Ort in den Kommunen äußerst schwierig werden. Vor allem weil Länder und Kommunen finanziell belastet und nicht – wie im Koalitionsvertrag festgelegt – im Rahmen eines Bundesteilhabegesetzes durch den Bund finanziell entlastet werden.

Es ist daher unerlässlich den Gesetzesentwurf grundlegend, umfassend und menschenrechtskonform zu überarbeiten. Einige gute und weitgehend unstrittige Teilregelungen im Bundesteilhabegesetz sollen jedoch – mit folgenden Maßgaben – sofort verabschiedet werden:

1. Im Rahmen des Budgets für Arbeit sind bedarfsgerechte Leistungen, die nicht finanziell gedeckelt werden für die Menschen mit Behinderungen durch bundesweit einheitliche Regelungen zu garantieren. Unter den identischen Bedingungen ist ein Budget für Ausbildung zu verwirklichen.

  1. Früherkennung und Frühförderung sind weiter auszubauen. Einheitliche Qualitätsstandards müssen für alle Anbieter verbindlich gelten. Die Beteiligung von Kindertagesstätten an der Komplexleistung Frühförderung ist zu ermöglichen. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist inklusiv auszurichten.
  2. Die Unabhängige Beratung ist als Rechtsanspruch festzuschreiben und verpflichtend barrierefrei auszugestalten. Auch ist die Befristung der finanziellen Förderung bis 2022 aufzuheben.
  3. Für die Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen ist der Qualifizierungsanspruch auf alle stellvertretenden Mitglieder der Schwerbehindertenvertretungen auszuweiten. Es ist zu regeln, dass Maßnahmen seitens der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die Beschäftigte mit Behinderungen betreffen, erst dann zur Umsetzung freigegeben werden dürfen, wenn die Schwerbehindertenvertretungen beteiligt und angehört wurden.
  4. Die vorgesehenen Mitwirkungsrechte für Werkstatträte sind zu echten Mitbestimmungsrechten – auch für die Beschäftigten mit Behinderungen in den Werkstätten – weiterzuentwickeln sowie ihre Tätigkeiten finanziell langfristig zu sichern.
  5. Für die Frauenbeauftragten in Werkstätten sind langfristige finanzielle Förderungen vorzusehen, um ihr Engagement und ihre Tätigkeiten abzusichern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem das komplexe und vielschichtige Teilhaberecht grundlegend, umfassend und menschenrechtskonform unter Beteiligung der Menschen mit Behinderungen und ihren Selbstvertretungsorganisationen und Vereinen, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Schwerbehindertenvertretungen, Werkstatträten und der Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention auf Grundlage ihrer zahlreichen Stellungnahmen überarbeitet wird. Dabei ist zu beachten:

  1. a)  Die zahlreichen Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern sind im Sinne der Menschen mit Behinderungen und der rechtsverbindlichen UN-Behindertenrechtskonvention auszugestalten. Dies muss insbesondere das Verhältnis zwischen den Teilhaberegelungen im SGB IX und der Pflegeversicherung im SGB XI, der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII und der dort zu ermöglichenden sogenannten Großen Lösung sowie der Hilfe zur Pflege im SGB XII umfassen.
  2. b)  Im Mittelpunkt müssen hierbei die Ermöglichung und Gewährleistung der gleichberechtigten, vollen und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gemäß der UN-BRK stehen. Die unterschiedlichen Teilhabeleistungen sind dabei bedarfsgerecht sowie unabhängig von Einkommen und Vermögen in einem neuen SGB IX gleichrangig untereinander festzuschreiben.
  3. c)  Teilhabeleistungen im neuen SGB IX sind gleichrangig zu einer teilhabesichernd weiterzuentwickelnden Pflegeversicherung (SGB XI) auszugestalten. Im Rahmen des Gesamtplanverfahrens zur Bedarfsfeststellung sind Teilhabeleistungen im neu gestalteten SGB IX gegenüber der Hilfe zur Pflege im SGB XII vorrangig auszugestalten.

Drucksache 18/10014

– 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Berlin, den 18. Oktober 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Vorabfassung – wird durch die lektorierte Fassung ersetzt.