Ein Anspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Grundsätzlich haben alle Mitglieder einer Krankenversicherung einen Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln. Für gesetzlich Krankenversicherte steht dieser Anspruch allerdings unter dem Vorbehalt, dass diese sogenannten Arzneimittel nur von einem Arzt verschrieben werden können und nicht durch Richtlinien der Krankenkassen ausgeschlossen sind. In der gesetzlichen Krankenversicherung ist dieser Anspruch außerdem der Höhe nach auf bestimmte Festbeträge (FB) beschränkt.
Schon im Jahre 2002 hatte sich das Bundesverfassungsgericht zur Kostendeckelung von Arzneien geäußert. Allerdings nicht aus der Perspektive der Versicherten, sondern der der Pharmaunternehmen. 2005 begann das Gericht seine Perspektive zu wechseln und erklärte, es sei mit den Grundrechten in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine dem allgemein anerkannten, medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung zu stellen. Ebenso unvereinbar ist, Krankenversicherte von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe. Diese sehr engen Voraussetzungen erweisen sich für viele Versicherte nach wie vor als unüberwindbare Hürde. Umso erfreulicher ist es, dass das Bundessozialgericht am 3. Juli 2012 zur FB-Regelung eine neue Entscheidung zugunsten der gesetzlich Krankenversicherten getroffen hat. In dem zugrunde liegenden Fall hatte eine Frau geklagt. Im Jahre 1981 diagnostizierte die Ärztin der Klägerin Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen. Seit 1991 kamen erhöhte Blutfettwerte hinzu. Seit 1999 senkte die Klägerin ihre erhöhten Cholesterinwerte mit dem Medikament Atorvastatin. Unter der Einnahme des Medikaments Pravastatin in der Zeit von März bis Juni 2005 kam es vermehrt zu Nebenwirkungen und einer Verschlechterung der Blutfette. Nach Absetzen von Pravastatin und alleiniger Diät verschlechterten sich die Blutfette weiter.
Absenkung der Festbeträge
Ab 2005 wurden die Festbeträge der Medikamente der Klägerin mehrfach abgesenkt. Arzneimittel waren seit 2007 zu Preisen unterhalb des Festbetrags (FB) erhältlich. Nicht aber mit Atorvastatin. Die Klägerin beantragte daher, Versorgung mit dem ihr wegen der hohen Cholesterinwerte vertragsärztlich verordneten Arzneimittel Sortis (welches Atorvastatin enthält) ohne Begrenzung auf den FB zu erhalten. Es sei in ihrem Fall das einzig nebenwirkungsfreie Mittel. Die Beklagte lehnte den Antrag unter Hinweis auf die Verfügbarkeit vergleichbarer Arzneimittel ab. Auch die sodann erhobene Klage vor dem Sozialgericht und Landessozialgericht hatte zunächst keinen Erfolg. Erst das Bundessozialgericht stellte einleitend fest, dass die FB-Regelung einem zweigeteilten Rechtsschutzkonzept unterliege: Seien betroffene Versicherte mit der FB-Festsetzung für Arzneimittel grundsätzlich nicht einverstanden, müssen sie unmittelbar die FB-Festsetzung gerichtlich überprüfen lassen. Beriefen sich die Versicherten demgegenüber darauf, dass bei ihnen ein Ausnahmefall vorliege, in welchem er trotz genereller Achtung der allgemeinen gesetzlichen Vorgaben keine hinreichende Arzneimittelversorgung zum FB verfügbar sei, könne direkt die Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel eingeklagt werden.
Die FB-Regelung sei Ausdruck des Wirtschaftlichkeitsgebots der Krankenversicherung. Sie garantiere für die Versicherten im Wesentlichen eine Gleichbehandlung, indem sie die Rechtsgrundlage schaffe, um typische Fälle in Gruppen zusammenzufassen. Dies erleichtere auch die Erfüllung der Aufgabe, die Versicherten nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnis oder dem Stand der Technik angemessen zu versorgen.
Gehe es dagegen um einen atypischen Ausnahmefall, in dem aufgrund der ungewöhnlichen Verhältnisse im Einzelnen keine ausreichende Versorgung zum FB möglich sei, greife die Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag nicht ein. Solch ein Einzelfall könne vorliegen, wenn keine ausreichende Versorgung zum FB mehr möglich sei, weil die zum FB erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen in erheblichem Ausmaß verursachten. Die Nebenwirkungen müssten daher über bloße Unannehmlichkeiten hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit erreichen. Dies habe der Versicherte zu beweisen.
Über die Autorin: Stephanie Claire Weckesser ist Rechtsanwältin in Berlin. Sie ist überwiegend im Miet-, Wohnungseigentums- und Immobilienrecht tätig. Weitere Tätigkeitsfelder sind Feststellungsverfahren nach dem SGB IX, Verfahren zur Erlangung von Erwerbsunfähigkeitsrente, Einstufung in die Pfegeversicherung sowie steuerrechtliche Fragen zur Krankheit und Behinderung. Ihre Kontaktdaten sind: Kronprinzendamm 3, 10711 Berlin, Tel.: 030/36409861, www.scweckesser.net.