Ein Gastbeitrag von Stephan Giering (Publizist aus Berlin)
Seit nun schon 7 Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes geltendes Recht. Doch Recht haben und Recht bekommen sind, wie bekannt, oft zwei Paar Schuhe.
Im Land Berlin arbeiten viele Akteure engagiert an diesem Thema und auch Berlins Sozialsenator Mario Czaja hat in kurzer Zeit schon viel erreicht: Das Land Berlin wurde im letzten Jahr im Zusammenhang mit der Anhörung Deutschlands im Rahmen der ersten Staatenprüfung zur Umsetzung der Konvention vor dem UN-Fachausschuss wegen seiner systematischen Normprüfung von Landesgesetzen positiv hervorgehoben.
Was jedoch muss im Land Berlin weiterhin getan werden, um die Normen des Berliner Landesrechts „barrierefreier“ im Sinne der UN-BRK zu gestalten?!
Kostenneutral und zeitlich schnell umsetzbar wäre die Einführung und Beachtung des Disability Mainstreamings bei allen Berliner Gesetzesvorhaben. Dieses „Wortungetüm“ bedeutet ganz einfach: alle Gesetzesvorhaben werden bereits in ihrer Entwurfsphase dahingehend überprüft, ob sie die Belange von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen. Dies beugt einer späteren etwaigen Diskriminierung vor und sensibilisiert Gesetzgeber und Verwaltung für ein barrierefreies Handeln.
Das Kindertagesstätten- und Schulgesetz muss barrierefrei werden: Die integrative Betreuung behinderter und nichtbehinderter Kinder wird zwar als Ziel bzw. Soll-Bestimmung vorgesehen. Es ist jedoch kein subjektiv-rechtlicher Anspruch eines jeden behinderten Kindes auf Aufnahme in den Regelkindergarten enthalten. Zu beachten ist daher, dass das Recht auf Inklusion im Sinne der UN-BRK nicht als Recht der Integration unter dem Vorbehalt der Assimilation an die für nichtbehinderte Kinder geschaffenen Strukturen interpretiert werden kann.
Eine Überprüfung des Berliner Psychiatriegesetzes (PsychKG) steht ebenso auf der Agenda. Denn gemäß Art. 14 Abs. 1 b) UN-BRK rechtfertigt das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung. Bei ärztlich angeordneten Zwangsmaßnahmen muss daher ausnahmslos der Menschenrechtsschutz der UN-BRK gewährleistet sein. Das gilt natürlich auch für das Betreuungsrecht: Bereits im Jahr 2014 hatte der Berliner Medizinrechtsexperte Volker Loeschner verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Neuregelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme in § 1906 BGB sowie den derzeit geltenden § 630g Abs. 1 BGB geäußert. Gegen ärztliche Zwangsmaßnahmen können Patienten sich demnach gegenwärtig nur durch eine Patientenverfügung schützen. Dies ist zwar ein Auftrag an den Bundesgesetzgeber, das Land Berlin kann jedoch über den Bundesrat Einfluss auf eine verfassungskonforme Neufassung dieser Regelungen im BGB nehmen.
Teilhabe ohne Vorbehalte ist ein Menschenrecht: Die Mehrdimensionalität des Begriffs Barrierefreiheit – auch in Bezug auf Freiheits- und Teilhaberechte – ist durch die UN-BRK neu definiert worden. Sie ist ein zentrales Prinzip der UN-BRK (Art. 3 Abs. f i.V.m. Art. 29 [Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben] und Art. 30 [Teilhabe am kulturellen Leben]). Finanzielle Barrierefreiheit ist somit eine zentrale Voraussetzung zur Realisierung dieser Teilhabe-Menschenrechte.
Praktische Beispiele dafür gibt es viele: Leistungen für Menschen mit Behinderung für kulturelle Teilhabe (Übernahme von Eintrittsgeldern für Konzerte, etc.) und Kostenübernahme für bestimmte Taxifahrten von Menschen mit z.B. einer psychischen und/ oder seelischen Behinderung, die behinderungsbedingt nicht den ÖPNV nutzen können (z.B. bei Angsterkrankungen, Panikattacken) im Rahmen ihrer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Genannt sei in diesem Zusammenhang auch das Projekt „Inklusionstaxi“ des Sozialverbands Deutschland, Landesverband Berlin-Brandenburg e.V. (SoVD), dass im Oktober letzten Jahres vom Landesvorsitzenden Michael Wiedeburg der Presse vorgestellt wurde.
Inklusion gelingt nur, wenn behinderte Menschen auch die finanzielle Chance haben, an kulturellen, sportlichen und sonstigen Freizeitaktivitäten teilzunehmen und mit nichtbehinderten Menschen in Kontakt zu kommen. Dies ist für Menschen mit Behinderungen besonders wichtig, um ihre psychosoziale Stabilität zu fördern. Barrierefreiheit bedeutet eben nicht nur die Schaffung der baulichen Voraussetzungen (Rampen für Rollstuhlbenutzer in der Konzerthalle) sondern gerade auch die Ermöglichung der finanziellen Voraussetzungen für die Teilhabe (z.B. die Kostenübernahme der Eintrittskarte für die Konzerthalle). Denn was nutzt eine baulich barrierefreie Konzerthalle oder der beste Sonderfahrdienst dem Rollstuhlbenutzer, wenn er sich den Eintritt für ein Rolling-Stone-oder Mozart-Konzert schlicht nicht leisten kann, da er im Grundsicherungsbezug weit unter der offiziellen Armutsgrenze in Deutschland leben und von dessen spärlichen Regelsatz er auch noch die Kosten für mittlerweile sehr viele Medikamente (bei Husten, Schnupfen, Fieber, Schmerzen, etc.) bestreiten muss?
Klagerecht des Landesbeirats für Menschen mit Behinderungen stärken:
Es besteht gemäß § 6 LGBG ein Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen. Dieser hat gemäß § 15 LGBG ein außerordentliches Klagerecht (Verbandsklagerecht). Dieses Klagerecht ist eine gute Regelung. Allerdings ist noch nicht sichergestellt, dass die Mitglieder des LbfMmB umfassend unterrichtet werden. Auch haben sie nicht immer die personellen und finanziellen Mittel um zu prüfen, ob ein Fall im Sinnes des § 15 LGBG vorliegt.
Eine Stärkung des Landesbeirats kann dadurch erfolgen, dass die Tätigkeit nicht mehr ehrenamtlich (vgl. § 6 Abs. 6 LGBG) erfolgt, sondern das die Tätigkeit angemessen steuerfrei entschädigt wird (z.B. analog zur steuerlichen Regelung der finanziellen Entschädigung von Bezirksverordneten). Ist der Landesbeirat personell und finanziell solide ausgerüstet, kann er seine Rechte aus § 15 LGBG effektiver wahrnehmen.
Es sind bei den Job-Centern Reha-Teams in allen Bezirken einzurichten, um Menschen mit Behinderungen bedarfsgerecht zu beraten und dann die am besten geeigneten Hilfestellungen zu geben.
Recht durchsetzen und nicht behindern: fast jeder zweite Klage vor dem Sozialgericht wird stattgegeben. Warum wird Recht nicht vorher richtig angewandt? Es ist vom Senat deshalb zu überprüfen, warum die Träger der Sozialhilfe und andere Kostenträger Anträge auf Teilhabeleistungen oft erst ablehnen und dann im Widerspruchsverfahren oder durch ein Urteil des Sozialgerichts bewilligen. Die Verantwortlichen sind zur Rechenschaft zu ziehen und diese Praxis ist zu unterbinden.
Die Bearbeitungszeiten für Anträge auf einen Schwerbehindertenausweis im LaGeSo sind zu verkürzen und so zu bearbeiten und zu bescheiden, dass die Quote der erst im Widerspruchsverfahren zuerkannten GdBs sinkt und der GdB gleich im ersten Bescheid richtig und zeitnah zuerkannt wird.
All das spart präventiv Steuergelder!
Die Bestellung der Bezirksbeauftragten für Menschen mit Behinderungen ist grundlegend neu zu gestalten. Sie sollen unabhängig von den Weisungen ihres Dienstherrn sein und keine Benachteiligung bei der Weiterbeschäftigung nach Beendigung ihrer Amtszeit erfahren. Analog dazu kann die rechtliche Stellung des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen herangezogen werden.
Fazit: es gibt noch viel zu tun; packen WIR es JETZT an!