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Seit März 2009 ist die Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft und damit verbindliche Richtschnur für das Regierungshandeln. Der deutsche Gesetzestext enthält Übersetzungsfehler. Zum Beispiel wurden „inclusion“ mit„Integration“ und„accessible“ mit„leicht zugänglich“ und eben nicht mit„barrierefrei“ übersetzt. Bis heute wurde dies nicht korrigiert. Von Beginn an wurde eine breite gesellschaftliche Diskussion zur Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und zum Begriff „Inklusion“ in die (Fach-)Öffentlichkeit getragen, was zuvor kaum eine UN-Konvention schaffte.
Mit der Behindertenrechtskonvention wurden keine Sonderrechte geschaffen, sondern die existierenden Menschenrechte für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen konkretisiert.
Die Konvention steht für:
- Selbstbestimmung und Autonomie
- Gleichberechtigte Handlungsfähigkeit
- Schutz vor Diskriminierung
- Würdigung der menschlichen Vielfalt
- Inklusion und Teilhabe
Mit der Anerkennung der Konvention und dem Leitbild Inklusion war die Hoffnung verbunden, die bestehende systemimmanente Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in ihren vielen Facetten zu beenden. Sechs Jahre nach der Ratifizierung der Konvention und der Nutzung des eng- lischsprachigen Begriffs „inclusion“ ist jedoch festzustellen: Der „Geist“ der Konvention hat viel in Bewegung gebracht. Der Begriff „Inklusion“ hat Optimismus und eine positive Dynamik ausgelöst, aber eben auch Erwartungen geweckt, die in der Realität bisher nicht erfüllt wurden.
Dies betrifft vor allem die wirtschaftliche Benachteiligung behinderter Menschen. Die Umsetzung steht erst am Anfang! In der Praxis fehlt es vor allem an entsprechenden finanziellen Ressourcen. Teilweise wird sogar versucht, die Inklusionsdebatte zu instrumentalisieren, um gut funktionierende und bewährte Strukturen „kaputt zu sparen“. Darunter hat das „Image“ des Inklusionsbegriffs enorm gelitten.
Es zeigt sich, dass der Begriff der „Inklusion“…
- teilweise Ängste, Zurückhaltung und Unsicherheit auslöst,
- vielerorts mit Erfahrungen des Scheiterns und weniger mit Erfolgen verbunden wird,
- inflationär von allen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppen benutzt wird,
- missbraucht wird, um bewährte spezifische Maßnahmen wie z. B. die Frühförderung in Frage zu stellen, neu „zu etikettieren“ oder ersatzlos zu streichen,
- für „Gleichmacherei“ instrumentalisiert wird und bisher nicht zu einem Verständnis von Vielfalt und einer inklusiven Gesellschaft geführt hat,
- bisher nicht zur echten Partizipation und aktiven Mitgestaltung geführt; sondern allenfall
- zum Ausbau eines relativ unverbindlichen Beiratswesens,
- als „Kampfbegriff“ in emotional aufgeladenen Fachdiskussionen um optimale Wege und Möglichkeiten z. B. in der schulischen Bildung erlebt wird,
- sich in der Sozialgesetzgebung bisher nicht wiederfindet, z. B. beim defizitorientierten Begriff von Behinderung, im Patientenrechtegesetz oder dem Mehrkostenvorbehalt für Leistungen.
Es ist Zeit, innezuhalten und die bisherigen Erfahrungen kritisch zu reflektieren. Positiv festzuhalten ist: Die UN-Behindertenrechtskonvention hat dazu geführt, dass Menschen mit Behinderung mehr wahrgenommen werden. Der Begriff Inklusion hat entscheidende Impulse für die Auseinanderset- zung mit der Lebenssituation von beeinträchtigten und benachteiligten Menschen und für einen Perspektivwechsel im Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung gesetzt. Die gilt es aufzugreifen und für eine plurale Gesellschaft zu nutzen, in der das Zusammenleben und der Umgang mit Verschiedenheit und Chancengleichheit eine Selbstverständlichkeit und somit Prinzip ist. Inklusion betrifft nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern ALLE. Nicht nur der Mensch mit Behinderung hat sich, wie jeder Mensch der Gesellschaft anzupassen, sondern für Inklusion ist insbesondere auch eine Anpassung der Gesellschaft nötig.
Die Diskussionen rund um Inklusion sind in der Gesamtheit als Erfolg auf dem Weg zu einer inklu- siven Gesellschaft zu werten, denn sie beweisen: Die Frage nach dem „Ob?“ ist längst überholt, es geht um die Frage nach dem „Wie?“.
Der Paritätische versteht unter Inklusion die selbstverständliche und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen von Anfang an. Sie ist geprägt von Gleichberechtigung, von Normalisierung und gleichen gesellschaftlichen Pflichten und Aufgaben für Menschen mit und ohne Behinderung. Auf der Basis des Grundsatzes gleichberechtigter Teilhabe werden die gleiche Qualität und der gleiche Standard in den jeweiligen Lebensbereichen, wie der Menschen ohne Behinderung zugestanden wird, erwartet. „Gleich“ bedeutet dabei jedoch nicht „identisch“, sondern eine dem individuellen Bedarf und der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung angepasste Unterstützungsleistung, z. B. bei der Ausübung eines Ehrenamtes, in der Freizeitgestaltung, in der schulischen Bildung, im Arbeitsleben oder in der medizinischen Versorgung.
Der Paritätische und seine Mitgliedsorganisationen fordern die Politik auf, ALLE rechtlichen Rahmenbedingungen und insbesondere das geplante Bundesteilhabegesetz mit Blick auf die Kompatibilität zur Konvention bzw. dem Leitgedanken zur Inklusion umzusetzen. In folgenden Punkten besteht dringender Handlungsbedarf:
- Der deutschsprachige Konventionstext braucht eine Korrektur.
- Ein neue Behinderungsbegriff bedarf ein Verständnis von Behinderung, das an den Ressourcen der Menschen und den Barrieren der Umwelt ansetzt.
- Partizipation und Mitwirkung brauchen neue Bedingungen, z. B. die rechtliche Verankerung einer unterstützten Entscheidungsfindung im Unterschied zum derzeitigen Betreuungsrecht.
- Entscheidungs- und Wahlfreiheit können über Akzeptanz von Lebensentwürfen.
- durch Anpassung der Sozialgesetzgebung sichergestellt werden.
- Individuelle Unterstützungsbedarfe z. B. in der Bildung oder Teilhabe am Arbeitsleben bedürfen die Bereitstellung von finanziellen Mitteln und einer rechtlichen Regelungen die keinen Ressourcenvorbehalt vorsieht.
- Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung bzw. den Aktionsplänen von Ländern und Kommunen werden eine Überprüfung und Konkretisierung der Maßnahmen sowie die Bezifferung der konkreten Ressourcen notwendig.
- Um Haltungen zu verändern, werden Investitionen in Bewusstseinsbildung nötig. Dazu gehört auch personenunabhängige Arbeit im Sozialraum, wie das Herstellen von Kontakten, um Inklusionsvoraussetzungen zu schaffen.
Inklusion darf nicht zu einem Instrument der Sparpolitik und der wirtschaftlichen Leistungsdek- kelung führen. Inklusion bedarf in einem steten Prozess Engagement, Anpassungsfähigkeit und Toleranz.
Inklusion verlangt eine neue Haltung, kostet Mühe und Geld. Hierfür sind Ressourcen bereitzu- stellen!
Sie wünschen einen Kontakt zur Parität? Die Ansprechpartnerin für dieses Thema ist:
Claudia Zinke, Referentin im Paritätischen Gesamtverband, Tel. 030/24636-319, behindertenhilfe@paritaet.org