Über 4000 Kilometer und 5 Stunden Zeitunterschied liegen zwischen Berlin und Nowy Urengoi, eine junge russische Großstadt mit über 100.000 Einwohnern im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen im nördlichen Westsibirien. Kürzlich hatte der Autor die Möglichkeit, die Stadt drei Tage zu besuchen.
Während sich in Berlin der Frühling bei rund 15 Grad mit aller Kraft entfaltete, erwartete mich in Nowy Urengoi eine Winterlandschaft bei für dortige Verhältnisse milden minus 5 bis minus 15 Grad. Dauerfrostboden am Polarkreis, lange Winter mit Temperaturen bis minus 50 Grad und kurze kräftige Sommer prägen die sibirische Tundra.
1966 wurde die Erschließung des Urengoi-Gasfeldes gestartet, die zur Ansiedelung von Arbeitskräften in dieser bis dahin weitgehend unbewohnten Gegend führte. Inzwischen gilt die 1973 gegründete Stadt Nowy Urengoi als „Hauptstadt“ der russischen Gasförderung. Der Transport des Gases ins europäische Russland und nach Europa erfolgt über Pipelines. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 90 km/h braucht das Gas rund 45 Stunden bis nach Deutschland.
Was Deutschland und Russland verbindet
In enger Zusammenarbeit mit dem Konzern GAZPROM ist die Wintershall in Nowy Urengoi tätig. Das Unternehmen mit Sitz in Kassel ist seit über 25 Jahren in Russland aktiv, beschäftigt weltweit rund 2.400 Mitarbeiter aus 40 Nationen und ist heute der größte international tätige deutsche Erdöl- und Erdgasproduzent. Wintershall engagiert sich auch für bessere deutsch-russischen Beziehungen und fördert kulturelle, soziale und sportliche Projekte, den Jugendaustausch sowie eine Städtekooperation zwischen Kassel und Nowy Urengoi.
Russland hat ebenso wie Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert. Meine Erfahrungen und Gespräche mit russischen Behindertenorganisationen und auch der Stadtregierung von Nowy Urengoi zeigen, dass die Ziele und Aufgaben gleich und die Probleme ähnlich sind, auch hinsichtlich des Weges zu einem inklusiven Bildungssystem.
Dies spürte ich auch beim Besuch der Schule Nr. 18, eine Sonderkita und –schule, vor allem für Kinder mit mentalen und Hörbeeinträchtigungen. Gut ausgerüstete Räume für kleine Lerngruppen, eine medizinischen Abteilung, eine Schwimmhalle und weitere Rehabilitationsangebote bietet die Schule mit den 120 Mitarbeiterinnen für 186 Kinder. Inklusive Bildungsangebote sind in Nowy Urengoi eher die Ausnahme, die Diskussion dazu ähnlich wie in Deutschland. Ein Vorhaben der Wintershall ist, in Nowy Urengoi auf ihre Kosten einen Inklusions-Kindergarten zu errichten. Kita-Plätze sind in dieser jungen, schnell wachsenden Stadt knapp, die Wartelisten lang. Beim Bau, der Einrichtung, dem pädagogischen Konzept und der Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und den Eltern sollen auch Erfahrungen aus Deutschland genutzt werden. Und das Angebot der Wintershall ist eine hervorragende Chance für die Stadt und ihre Bewohner, auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft voranzukommen.
Barrierefreiheit trotz sibirischer Kälte
In vielen öffentlichen Gebäuden gibt es Treppen und andere bauliche Barrieren. Nicht alle sind mit den klimatischen Bedingungen begründbar. Sicher, der lange und harte Winter erschwert das Leben von Menschen mit Behinderungen in der Region und stellen andererseits Bauherrn, Architekten, Verkehrsunternehmen usw. vor zusätzliche Herausforderungen bei der Schaffung von Barrierefreiheit. Kälte und Schnee(barrieren) sind gerade für Rollstuhlfahrer sehr problematisch. Trotzdem will auch Nowy Urengoi mehr für ein selbstbestimmtes Leben und umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen tun.
Ein Erlebnis war auch die Teilnahme an der Eröffnung des 13. internationalen Kinder-Theaterfestivals der Stadt. Mit dabei die Theatergruppe Nedoslow aus Moskau. Die gehörlosen Schauspielerinnen und Schauspieler führten das Stück von Maxim Gorki „Der freie Wille“ auf. Das Publikum war begeistert und die Diskussionen danach spannend. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, Nedoslow auch mal nach Berlin einzuladen.