Die Sammlung Prinzhorn

Blick auf die so genannte "Irrenkunst"

von: Rainer Sanner

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Der Stülerbau Ost (Erweiterungsbau) mit der Sammlung Scharf-Gerstenberg (Foto: Inge Kanakaris-Wirtl).

Im Sommer des Jahres 1921 kam sie unerwartet an in der Heidelberger Psychiatrischen Klinik, eine umfassende Sammlung von „Bildnerei der Geisteskranken“, wie Hans Prinzhorn diese Kunstform in seinem 1922 dazu erschienenen Buch benannte, Bilder von Künstlerinnen und Künstlern, die nie eine Kunsthochschule besucht und meist wohl nur wenig „Bildung“ genossen hatten, Bilder von verwirrender Schönheit. Damals überließ, ja, überantwortete der Assistenzarzt und Geisteswissenschaftler Hans Prinzhorn (1886 – 1933) eine Sammlung solcher befremdlicher Bildwerke der Klinik. Die Sammlung umfasst rund 5000 Arbeiten von etwa 450 Patientinnen und Patienten psychiatrischer Anstalten, überwiegend Zeichnungen und auch Ölgemälde, textile Arbeiten, Collagen, Skulpturen aus Holz und auch Texte.

Der historische Hintergrund

Begonnen hatte damals zum einen eine Veränderung der gegen Ende des 19. Jhdt. noch vorherrschenden Vorstellungen von psychischen Erkrankungen: Während bis dahin konservative Psychiater noch gefordert hatten und forderten, die Gesellschaft müsse sich „gegen Geisteskranke schützen“, begannen manche andere, die im psychotischen Zusammenbruch auch „gesunde Anteile“ sahen, langsam eine Wende einzuleiten, leisteten sich private Kliniken eine eher psychoanalytisch orientierte ärztliche Kunst. Doch im Allgemeinen gehörten zur Zeit Prinzhorns sowohl die Gewaltanwendung als auch die Isolation noch zum Alltag in den Anstalten, wurde dort mit Schlägen, Sturzbädern in kaltes Wasser, Fixierungen oder dem „Zwangsstehen“ „therapiert“. Auf dem Hintergrund dessen war die Idee Prinzhorns, den Bildwerken von Anstaltsinsassen einen künstlerischen Wert beizumessen, ein neuer, gewagter Schritt.

Ein neuer Blick der künstlerischen Moderne

Im Zusammenhang damit veränderte sich auch der Blick auf die so genannte „Irrenkunst“: Während solche Bilder zuvor an Orten wie Kuriositätenkabinetten aufbewahrt und gezeigt worden waren, öffneten sich mit der von der ersten Generation der Expressionisten verlangten „Umkehr zur reinen Kunst“, dem Finden von gestalterischer Freiheit in einfachsten künstlerischen Mitteln (Matisse) oder dem Bestreben, mit der Suche nach „den Uranfängen“ der Kunst (Paul Klee) den Vorwurf des Kindlichen oder der mangelnden Kunstfertigkeit entkräften zu können, die Augen der Kunstwelt für die ästhetische Schönheit visuell befremdlicher Kunstwerke. Hinzu kam, dass über diesen neuen Blick der künstlerischen Moderne jetzt auch die ästhetische Schönheit und die besondere Perspektive in anderer Hinsicht befremdlicher, irritierender Kunstwerke wahrgenommen werden konnte.

Erstaunliche Exponate

Zum Beispiel die einer sorgsam kolorierten Bleistiftzeichung von Gustav Siebers, einem gelernten Weber, der, wegen Bettelei festgenommen, dann für wiederholte Gewalttaten lang hinter Gittern saß. 125 Mal hat Sievers als Insasse einer psychiatrischen Anstalt bei Göttingen an einem einzigen Tag im Jahr 1918 die Aussicht aus seinem Zellenfenster in Form von sorgsam kolorierten Bleistiftzeichnungen festgehalten, immer wieder die gleiche Ansicht, die gelben Mauern und die roten Dächer des direkt gegenüberliegenden Gefängnisses. Eine dieser Zeichnungen ist in der Ausstellung zu sehen.
Immer wieder spricht aus den Werken auch der sehnlich zum Ausdruck gebrachte Wunsch, nicht vergessen zu werden, so auch aus dem einer Patientin, die in den Anstaltsakten als „Miss G.“ geführt wurde. Hinterlassen hat sie ein Taschentuch, das offenbar ganz außergewöhnlich ist in seiner Sticktechnik, mit den auf einem Stück Leinentaschentuch wild arrangierten Fäden und der Inschrift „Forget me not“, also „Vergiss mich nicht“.

In der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstraße 70, 14059 Berlin sind bis zum 6. April 2015 unter dem Titel „Das Wunder der Schuheinlegesohle – Werke aus der Sammlung Prinzhorn“ rund 120 Kunstwerke aus dieser Sammlung zu sehen.