„Ihr habt aber viel Post!”, ruft mir unsere Nachbarin Ute entgegen, die ich schwerbepackt vor unserem Wohnhaus treffe. „Das ist alles für Karl” entgegne ich. „Da habt ihr ja ein ganz schön teures Kind”, lacht Ute* mich an, bevor ich winkend hinter der Haustür verschwinde. Später beim Auspacken wird mir bewusst, wie teuer unser Kind wirklich ist.
Karl wurde vor über einem Jahr mit Spina bifida, einem offenen Rücken, geboren. Diese Neuralrohrfehlbildung tritt in Mitteleuropa etwa bei jeder 1000sten Geburt auf. Entsprechend der Fehlbildung variiert die körperliche Beeinträchtigung bis hin zur völligen Querschnittslähmung. Karl ist schwer betroffen. Seinetwegen bekommen wir regelmäßig große Pakete: Einmalkatheter, sterile Kompressen, Desinfektionsmittel, Blasenmedikamente sowie Spritzen und Aufsätze zum Injizieren. Karl erhält zudem regelmäßig Therapien und hatte bisher vier Operationen mit stationären Aufenthalten. Später wird er Orthesen und einen Rollstuhl benötigen. Die finanziellen Kosten übernimmt Karls Krankenkasse.
Seine erste Operation hatte Karl bereits im Mutterleib. Ein Team von Schweizer Spezialisten hat seinen Defekt am Rückenmark intrauterin verschlossen. Unsere deutsche Krankenkasse und das heutige Zentrum für vorgeburtliche Diagnostik und Therapie in Zürich haben die Kosten im sechsstelligen Bereich getragen. Zum Zeitpunkt der Operation war die Kostenfrage noch nicht geklärt. Wir wären bereit gewesen, uns zu verschulden. Dass Karl heute seine Beine bewegen kann, hat er diesem chirurgischen Eingriff zu verdanken – für uns unbezahlbar. Als eine Zeitungsreportage über die Operation berichtete, wurde uns vorgeworfen, der Gesellschaft immense Kosten aufzubürden. Ein Leser schrieb: „Die hochbezahlten Ärzte spielen Gott, die Eltern finden einen starken gemeinsamen Lebensinhalt und die Gesellschaft kommt für alle Kosten auf. Das Kind wird trotzdem eine elende Leidensgeschichte durchleben. Irgendwann wird es in einem Heim ein jämmerliches Dasein fristen”. Zunächst: Karl leidet nicht. Er lacht mindestens so viel wie unsere gesunde Tochter auch. Dennoch bleibt die Entscheidung für Karl eine unökonomische. Aber ist sie deswegen weniger legitim? Eine Antwort hängt auch davon ab, wie unsere Gesellschaft Behinderung wahrnimmt. Die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die 2009 von Deutschland ratifiziert wurde, entspricht einem sozialen Modell von Behinderung. Ein solches kritisiert gesellschaftliche Barrieren und fordert Teilhabe, z. B. mittels inklusiven Unterrichts. Ursula Naue, Expertin in der Behindertenpolitik, weist darauf hin, dass die Verbreitung von genetischer und pränataler Diagnostik am sozialen Modell rüttelt und ein medizinisches Modell von Behinderung stärkt. Dieses betrachtet Behinderung als medizinisch-körperliches Phänomen. Angesichts pränataler Diagnostik wirft das medizinische Modell die Frage nach der Verantwortung auf. Ist Behinderung vermeidbar?
In Deutschland wird die überwiegende Mehrheit der Behinderungen durch Krankheit verursacht. Nur 4 Prozent der Behinderungen sind angeboren oder treten im ersten Lebensjahr auf (statistisches Bundesamt 2011). Von den vorgeburtlich bedingten Behinderungen können nur wenige durch pränatale Diagnostik festgestellt werden. In diesen Fällen können sich die betroffenen Eltern nur für oder gegen die Austragung ihres Kindes entscheiden, nicht für oder gegen seine Behinderung. Durch die intrauterine Operation wurde Karls Behinderung gemildert, nicht geheilt. Ihn gab es nur mit Spina bifida, nicht ohne. Laut dem australischen Philosophen Peter Singer beginnt die Persönlichkeitsbildung eines Menschen weit nach der Geburt. Für uns war Karl aber nicht austauschbar. Singer wertet zudem ein Leben mit einer schweren Behinderung wie Spina bifida als leidvoll. Ähnlich argumentiert in einer aktuellen, durch einen Tweet ausgelösten, Diskussion der renommierte US Evolutionsbiologe Richard Dawkins. Er persönlich würde einen Fötus mit Trisomie 21 abtreiben – um Leid von Kind und Eltern abzuwenden. Noch kann Karl solchen Argumenten nicht widersprechen. Stattdessen rollt er mit seiner Schwester quietschvergnügt auf unserem Wohnzimmerteppich herum. Unsere Familie und die Gesellschaft machen durch Karl keinen monetären Gewinn. Doch wir sind sehr glücklich mit ihm.
Für uns muss Karl die Kostenargumentation nicht gewinnen.
*der Name wurde geändert