Estland barrierefrei entdecken

von: André Nowak

Hoo9_fUsZbh6KAvbrnwhzDguREifKGWwiS1Qdvv-NaAWarum sollte man unbedingt mal nach Estland reisen? Und kommt man dort auch als Tourist mit Mobilitätseinschränkungen klar? Eine Einladung von Marion & Els Bobkov und dem Team von Accessible Baltics, dem Reiseveranstalter für barrierefreien Tourismus in Estland, an eine kleine Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Barrierefreien Tourismus aus Deutschland gab mir die Möglichkeit, sich Ende Mai bei einer Rundreise selbst ein Bild davon zu machen und Erfahrungen auf diesem Gebiet zwischen beiden Ländern auszutauschen.
„Tere!“ (Hallo) gehört noch zu den für uns einfachen Worten in einem Land, dessen Bewohner eine Sprache sprechen, die, außer mit dem Finnischen oder dem Ungarischen, mit keiner anderen Sprache Europas verwandt ist. Eine Verständigung in Estland ist dennoch ohne größere Probleme möglich, denn im Land wird faktisch überall auch Russisch und Englisch und zum Teil auch Deutsch gesprochen. Und dann gibt es noch die sehr herzliche Gastfreundschaft, die alle Sprachbarrieren überwindet.
Estland, das nordöstlichste der baltischen Länder und der Europäischen Union (EU) wird vor allem von Touristen im Rahmen von Kreuzfahrten mit der Fähre aus dem 80 Kilometer entfernten Helsinki und bei einer Rundreise über das Baltikum besucht. Das Land ist rund 45.000 km² groß (etwas weniger, als Niedersachsen) und hat ca. 1,3 Millionen Einwohner. In den Städten wohnen 70 Prozent der Esten und so ist die Hauptstadt Tallinn mit fast 430.000 Einwohnern eine durchaus große europäische Metropole. Tartu folgt mit fast 100.000 Einwohnern. Estland bietet viel Natur, Ruhe und ungestörte Entspannung. Dafür sprechen die Ostseeküste, 44 Prozent der Landesfläche, die mit Wald bedeckt ist und auch die 16 Heilbäder. Berühmt ist Estland auch für seine Sängerfestivals.

WcfiJNt19NhtdzG_k4aZfV7qVoNQoPiBCzO71DIYi6wFreies Internet für alle

In Estland leben Braunbären, Wölfe und Elche. Es gibt ein modernes Straßennetz, an dem allerdings immer noch und wieder einmal gebaut wird. Die Landwirtschaft des Landes ist technisch gut ausgestattet. Darüber hinaus ist man in Estland, wo übrigens auch die Software für die Internettelefonie „Skype“ entwickelt wurde, hinsichtlich der Nutzung des Internets in Europa weit vorn. Seit dem Jahr 2000 gibt es hier ein staatlich garantiertes Recht auf Zugang zum Internet. 99 Prozent der bewohnten Landesteile sind mit drahtlosen und kostenfrei nutzbaren Zugangspunkten abgedeckt und wer keinen eigenen Computer hat, kann die rund 700 öffentlichen Terminals in den Postämtern, Bibliotheken und Läden kostenfrei nutzen. Die Regierung wird hier im Internet gewählt und das Busticket bezahlt man mit dem Mobiltelefon.

Tallinn – Mittelalter trifft Moderne

Das höchste Bauwerk Estlands ist mit 314 Metern der Fernsehturm. Im Unterschied zum Berliner Fernsehturm sind hier Rollstuhlfahrer und andere Menschen mit Mobilitätseinschränkungen willkommen und können den fantastischen Ausblick von der 170 Meter hohen Plattform auf die Hansestadt genießen. Estland und seine Hauptstadt haben eine sehr wechselvolle Geschichte, die eng mit der deutschen, aber auch dänischen, schwedischen, polnischen und russischen Geschichte verknüpft ist. 1248 erhielt Tallin das Lübecker Stadtrecht. Die Altstadt gehört zum UNSCO-Welterbe, ein herrlicher Blick über ihre Dächer bieten die Aussichtsplattformen vom Domberg (Foto). Das Herz der Stadt ist der Rathausplatz, auf dem sich in Straßencafés und Kneipen vor bildschönen gotischen Fassaden halb Estland trifft. Auch Stadtmauer, Domkirche, Nikolaikirche, das nationale Kunstmuseum KUMU der Bummel durch die Straßen und Gassen im Zentrum sind ein MUSS für die zahlreichen Touristen.

Tausendjähriges Tartu – die ewig junge Stadt

Die 1632 gegründete Universität (unbedingt besichtigen!) gehört zu den besten der Welt. Hier studierte und lehrte u.a. der Chemie-Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald. Auch die Totenmasken vom deutschen Philosophen Immanuel Kant sowie dem russischen Schriftsteller Alexander Puschkin verweisen auf die Spuren berühmter Persönlichkeiten, die in Tartu ihre Spuren hinterließen. Als Teil des geodätischen Struve-Bogens steht die Sternwarte der Uni Tartu auf der UNESCO-Welterbeliste. Die Altstadt, die Johanniskirche mit den über 1000 Terrakotta-Figuren, die ehemalige Domkirche und das Science Centre AHHAA sind weiter Attraktionen der Hansestadt.

Der Nationalpark Sooma – ein einzigartiges Feuchtgebiet

Das Besucherinformationszentrum, der Biberpfad, eine Kanufahrt und eine Wanderung durch das Riisa Hochmoor vermitteln interessante Einblicke in diese einzigartige Natur, übrigens auch für Touristen mit Behinderungen. Nicht weit davon bietet das Klaara-Manni-Ferienzentrum sehr familienfreundliche (und barrierefreie) Unterkünfte und eine hervorragende landestypische Küche.
Heilschlamm aus der Kurstadt Haapsalu
Seit zweihundert Jahren wird hier aus dem Meer der wertvolle Heilschlamm geschöpft und für Kurbehandlungen, zum Beispiel in dem modernen Neurologischen Rehabilitationszentrum, verwendet.
Ilon Wikland, die viele Bücher von Astrid Lindgren illustrierte, verbrachte in der 800jährigen Kleinstadt ihre Kindheit – das Ilons Wunderland gehört deswegen heute neben dem Kursaal, der Altstadt mit den Holzhäusern und der Bischofsburg mit der 1260 erbauten Domkirche zu den Sehenswürdigkeiten von Haapsalu.

Estland (fast) ohne Barrieren

Mit dem Rollstuhl in Estland unterwegs zu sein, geht nicht ohne die Bekanntschaft mit Kopfsteinpflaster, das in den historischen Altstädten das Straßenbild prägt. Zugleich gibt es jedoch auch in diesen Städten zunehmend mehr gut befahrbaren Belag auf Fußwegen und abgesenkte Bordsteine. Eine größere Zahl der Geschäfte, Restaurants oder Cafés sind mittels Schrägen für jeden zugänglich. In mehreren Museen und Sehenswürdigkeiten stehen Fahrstühle zur Verfügung, um in oberen Etagen zu kommen. In den Städten fahren Niederflurbusse und –straßenbahnen. Ohne Estland „über den grünen Klee“ zu loben und Probleme zu übersehen – die Schaffung von Barrierefreiheit – auch für Touristen – ist ein aktuelles Thema im Land. Hinsichtlich barrierefreier öffentlicher Bedingungen ist Estland weitgehend auf europäischem Niveau und kann für Reisende mit Mobilitätseinschränkungen durchaus empfohlen werden.
Reise-Informationen: Für die Einreise genügt der Personalausweis, die Republik Estland ist seit 2004 Mitglied der EU und hat seit 2011 den Euro als Zahlungsmittel.
Es gibt im Buchhandel und Bibliotheken div. Reiseführer. Die offizielle Tourismus-Homepage von Estland (auch auf Deutsch) ist www.visitestonia.com.
Für mobilitätseingeschränkte Touristen empfiehlt sich www.accessiblebaltics.eu/en/. Zur Palette von Informationen gehört eine Übersicht von Unterkünften, die als „barrierefrei“ eingestuft wurden. Für alle Besucher des Landes, die sich gern ein Programm zum Kennenlernen Estlands zusammenstellen lassen möchten, oder die auch individuell beraten und betreut werden möchten, finden in „Accessible Baltics“ (zugängliches Baltikum) einen sachkundigen Partner, dessen Informationen im Internet bisher allerdings nur in estnischer, finnischer und englischer Sprache nachzulesen sind.

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