Entscheidung auch für Berlin bedeutsam. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem Urteil vom 12. Januar 2012 (Az.: 7 A 1977/10) die Anforderungen an barrierefreies Bauen in Bezug auf öffentlich zugängliche Einrichtungen gestärkt. Die Entscheidung ist auch für Berlin bedeutsam, da die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen in etwa den Berliner Vorschriften entspricht.
In der Sache begehrte die Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Baugenehmigung. Sie wollte ein Fleischereigeschäft im Erdgeschoß zu einem Bäckereifachgeschäft mit angeschlossenem Café umbauen. Sie plante auch die Einrichtung von Damen- und Herrentoiletten. Gleichzeitig beantragte sie, ihr im Wege einer Ausnahmeregelung zu erlassen, ein Behinderten-WC einzubauen. Zur Begründung führte sie aus, die Einrichtung einer behindertengerechten Toilette würde die Gastplatzzahl von 28 auf 22 reduzieren; dies führe zur Unwirtschaftlichkeit des Objektes. Die zuständige Baubehörde lehnte die Baugenehmigung ab und führte zur Begründung aus, die Vorschriften der Bauordnung Nordrhein-Westfalen und insbesondere § 55 Abs. 4 sehen die Einrichtung einer behindertengerechten Toilette vor. Bei dem geplanten Bäckereifachgeschäft mit angeschlossenem Café handele es sich um ein öffentlich zugängliches Gebäude im Sinne der Vorschriften der nordrhein-westfälischen Bauordnung. Diese sähen, ähnlich wie die Berliner Bauordnung, Barrierefreiheit bei öffentlich zugänglichen baulichen Anlagen vor. In erster Instanz gab das Verwaltungsgericht der Rechtsauffassung der Baubehörde Recht. Die gegen das Urteil des Verwaltungsgericht eingelegte Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht stützte die Ausführungen des Verwaltungsgerichts und wies ergänzend zunächst darauf hin, dass es sich um eine öffentlich zugängliche Anlage handle. Sowohl nach den Vorschriften der Bauordnung als auch des Gaststättengesetzes sei von dem Erfordernis der barrierefreien Zugänglichkeit auszugehen.
Wegweisende Begründung
Das Oberverwaltungsgericht NRW weist in seiner Entscheidung auch darauf hin, dass es nicht darauf ankomme, ob sich der Bauherr freiwillig oder gezwungenermaßen dafür entscheide, Kundentoiletten einzurichten. Sofern Toiletten vorgehalten werden, müssen auch behindertengerechte eingebaut werden. Zu den Anforderungen an die Barrierefreiheit verwies das Oberverwaltungsgericht von NRW auf die Definition des §4 des Behindertengleichstellungsgesetzes Nordrhein-Westfalens. Die Definition entspricht jener, die auch in der Berliner Bauordnung und im Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz Eingang gefunden hat. Entscheidend ist dabei, dass der Zugang und die Nutzung für Menschen mit Behinderung in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe möglich ist. Gerade auf diese Zielsetzung hebt das Oberverwaltungsgericht besonders ab: Die Gewährleistung von Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bezieht sich auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit, die so zu beeinflussen ist, dass Behinderte grundsätzlich die Möglichkeit erhalten sollen, in gleicher Weise am Leben teilzunehmen wie nicht Behinderte. Das betrifft auch einen alltäglichen Lebenssachverhalt, wie das Auftreten eines „menschlichen Bedürfnisses“ während eines Besuches einer mit nicht rollstuhlgeeigneten Toiletten ausgestatteten Verkaufsstätte oder Gaststätte. Die zeitgebundene oder bedürfnisbezogene Inanspruchnahme öffentlich zugänglicher Gaststätten und Verkaufsstätten mit Aufenthaltsmöglichkeiten zum Verweilen und Verzehr von Speisen an Ort und Stelle stünde auf die Benutzung von Rollstühlen angewiesenen Personen sonst nicht in der gleichen Weise zur Verfügung, wie nicht in dieser Weise behinderten Menschen.
An anderer Stelle geht das Gericht auch auf einen Punkt ein, der auch für Berlin von Interesse ist, wonach bei ungünstiger Bebauung oder unverhältnismäßigen Mehrkosten von den Anforderungen an die Barrierefreiheit abgesehen werden könne. Hier weist das Gericht darauf hin, dass Kosten, die über eine Grenze von 20 Prozent über den Normalbaukosten gehen, noch nicht als unverhältnismäßig anzusehen sind. Die Entscheidung stellt in Klarheit fest, wie bedeutsam barrierefreies Bauen bei der Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist. Insoweit muss von dem im Gesetz vorgesehenen Ausnahmeregelungen tatsächlich auch sehr sparsam Gebrauch gemacht werden.
Berliner Situation
Leider belegen viele Berliner Beispiele das Gegenteil. Die Baubehörden und insbesondere auch die zuständige Senatsverwaltung sollte sich den Wortlaut dieser Entscheidung ausführlich zu Gemüte führen. Immer wieder ist in Berlin festzustellen, dass ohne Not Ausnahmegenehmigungen von dem Erfordernis barrierefreien Bauens erteilt bzw. Barrierefreiheit von vornherein gar nicht erst beachtet wird.
Auch wenn die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts NRW hier nicht auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) Bezug nimmt, ist hier doch ergänzend auf Art. 30 Abs. 1c hinzuweisen. Diese Vorschrift regelt auch die Teilhabe am kulturellen Leben und bestimmt, dass die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen anerkennen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen und den Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten sicherstellen. Weder mit der aufgezeigten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen noch dem soeben zitierten Art. 30 ist dann beispielsweise die Regelung in §52 Abs. 1 Nr. 15 der Berliner Bauordnung vereinbar. Nach dieser Vorschrift können bei Sonderbauten Ausnahmen unter anderen auch bezüglich barrierefreien Nutzbarkeit gemacht werden.
Fazit: Ungeachtet ermutigenden Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts NRW und der UN-BRK wird man um eine Novellierung der Berliner Bauordnung nicht herumkommen.
Von Dr. Martin Theben (BBZ-Ausgabe Februar 2013)
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