Gesetzlicher Mindestlohn für Werkstattbeschäftigte

von: Berliner Behindertenzeitung

Logo_mitglied_4c KopieEin Diskussionspapier des Spitzenverbands Der Paritätische vom März 2014 hat in der Werkstattlandschaft für Aufsehen gesorgt. Es fordert für Werkstätten (und Integrationsfirmen) die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns unter der Voraussetzung, dass „sichergestellt wird, dass die Spezifik der Rehabilitationseinrichtungen erhalten bleibt“ und die Einführung nicht „zu einer Verschlechterung der bisherigen Rechts- und Versicherungsansprüche führt“. Der Mehrbedarf beim Arbeitsentgelt, so lautet seine Forderung, sei „aus Steuermitteln abzusichern“.

Nach der aktuellen Rechtslage, das ist auch den Verantwortlichen des Paritätischen klar, ist dieser Vorschlag nicht durchsetzbar, denn Werkstattbeschäftigte sind keine Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber spricht von einem „arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis“. Arbeits- und Tarifrecht gelten nicht oder nur eingeschränkt, ein Anrecht auf einen gesetzlichen Mindestlohn besteht nicht.

„Wir kriegen für unsere Arbeit nur ein Taschengel“

Die gesetzliche Festlegung einer Mindestlohngrenze macht jedoch einen Mangel des Werkstattstatus noch deutlicher, der von vielen als ein Geburtsfehler der Werkstattgesetzgebung betrachtet wird: die Tatsache, dass die Beschäftigung in einer WfbM nicht zu einem existenzsichernden Auskommen führt. Martina Zeidler, eine Mitarbeiterin der Hamburger Elbe-Werkstätten, sagt es so: „Wir kriegen für unsere Arbeit nur ein Taschengeld und wehe, wir verdienen mal etwas mehr, dann kommt die Sozialhilfe und holt das wieder weg. In der Werkstatt zu arbeiten, würde mir leichter fallen, wenn wir mehr Geld bekämen.“ Ihr Monatseinkommen liegt bei 180 Euro, das entspricht bei 36 Arbeitsstunden in der Woche einem Stundenlohn von 1,20 Euro. Viele Werkstattbeschäftigte empfinden solche Löhne als diskriminierend. Martina Zeidler: „Mein Arbeitsplatz unterscheidet sich nicht sehr von dem in einem Betrieb draußen, aber die Löhne sin d nicht entsprechend. Und jeder, der weiß, was wir verdienen, denkt sich doch: Die kriegen nichts, also können die auch nichts.“ Für sie ist die Entlohnungsfrage ein Prüfstein für Gleichwertigkeit, die aktuellen Löhne sichtbarer Ausdruck von Stigmatisierung.

Lebensunterhalt weitgehend unabhängig bestreiten können

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten forderte bereits 1984 in ihren Beiträgen zur Konzeption der Werkstätten für Behinderte, Werkstattbeschäftigte sollten mit staatlicher Hilfe soviel Entgelt erhalten, dass sie ihren „Lebensunterhalt weitgehend unabhängig von der materiellen Hilfe anderer bestreiten“ können. In der Werkstattlandschaft stößt der Vorstoß des Paritätischen allerdings überwiegend auf Skepsis. Er sei nicht „systemkonform“ heißt es, die Werkstattgesetzgebung basiere nun einmal auf dem Konstrukt der Erwerbsminderung, und die Zahlung eines existenzsichernden Lohns könne das Anrecht auf einen Werkstattplatz gefährden. „Was nützt den Werkstattmitarbeitern ein gutes Einkommen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren?“

Nun passt das rentenrechtliche Kriterium der „vollen Erwerbsminderung“ ohnehin nicht gut zur Leistungseinschränkung, die durch eine geistige oder seelische Behinderung begründet ist. Die volle Erwerbsminderung ist nach § 42 SGB VI an die Bedingung geknüpft, dass auf dem Arbeitsmarkt nur eine Tätigkeit von weniger als drei Stunden verrichtet werden kann. Diese Bedingung ist nur schwer mit der 36-Stundenwoche eines unter Normalisierungsbedingungen tätigen Werkstattmitarbeiters zu vereinbaren. Behinderten Menschen geht es gerade nicht um den Rückzug, sondern um die Teilnahme am Erwerbsleben, allerdings unter Berücksichtigung ihrer individuellen Leistungsfähigkeit. Das Budget für Arbeit finanziert dieser Logik entsprechend bei einer Tätigkeit von Werkstattberechtigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Minderleistungsausgleich und für sie gilt der gesetzliche Mindestlohn. Wenn es dort möglich ist, warum sollen Leistungsberechtigte in der Werkstatt davon ausgeschlossen sein? Und noch ein Argument: In unseren Nachbarländern Frankreich, Belgien und den Niederlanden ist das System beruflicher Teilhabe so konstruiert, dass Werkstattmitarbeiter von ihrem Lohn leben können.

Im Einklang mit der UN-BKR

Prof. Felix Welti, einer der führenden deutschen Sozialrechtler und Spezialist im Behindertenrecht, spricht sich entschieden für eine Strukturänderung und für die Zahlung eines gesetzlichen Mindestlohns in der Werkstatt aus: „Grundsätzlich halte ich die Erstreckung des Mindestlohns auf Beschäftigung in WfbM bei Erstattung der Kosten durch Sozialleistungsträger für die mit Art. 27 UN-BRK besser zu vereinbarende Lösung. Das starre Konstrukt der Erwerbsminderung erweist sich in der Praxis als eher hinderlich für die Einbeziehung behinderter Menschen in das Erwerbsleben. Und es scheint mir dringend erforderlich zu Regelungen zu kommen, die die Durchlässigkeit von den WfbM zum Arbeitsmarkt verbessern.“

Einer der wenigen Befürworter einer solchen Lösung unter den Werkstattverantwortlichen ist der Werkstattleiter der Dortmunder AWO-Werkstätten, Klaus Hermansen. Er entkräftet die Befürchtung, eine Subventionierung der Werkstattlöhne aus Steuermitteln bedeute einen nicht zu verkraftenden Mehraufwand für die öffentliche Hand. Nach seiner Überzeugung würde mit dem gesetzlichen Mindestlohn die Gesamtbelastung an Transferzahlungen nicht oder nur unwesentlich steigen. Allerdings gäbe es eine – politisch erwünschte – Verschiebung der Kosten von den Kommunen zum Bund. Er rechnet vor: „Wenn der Bund für 300 000 WfbM-Mitarbeiter bei 35 Wochenstunden einen Minderleistungsausgleich von 7 Euro pro Stunde zahlen würde, dann wäre das eine Belastung von 3,82 Mrd. Euro.

Einsparungen gäbe es bei den Rentenversicherungsbeiträgen, die bislang der Bund zahlt, bei den Krankenversicherungsbeiträgen, die bislang der Überörtliche zahlt und bei der Grundsicherung und der Hilfe zum Lebensunterhalt, die bislang die Kommunen zahlen.“ Wie die Geldflüsse sich miteinander verrechnen ließen, wer wie stark be- oder entlastet würde und ob das Ganze tatsächlich ein Nullsummenspiel wäre, das wäre ein Thema für eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung.

Das zu schaffende Bundesteilhabegesetz

Auf eine zusätzliche drohende Schlechterstellung von Werkstattbeschäftigten, zumindest in ihrer subjektiven Wahrnehmung, weist in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift Klarer Kurs Dieter Basener hin. In einem künftigen Bundesteilhabegesetz ist auch die Zahlung eines Teilhabegeldes für Schwerbehinderte geplant – im Gespräch ist eine monatliche Summe von 600 Euro. Allerdings kämen Werkstattbeschäftigte auch hier nicht in den Genuss dieser Leistung, weil diese Zahlung mit anderen Leistungen aus dem Gesetz wie der Übernahme der Werkstattkosten verrechnet würde. Das hätte zur Folge, dass Werkstattbeschäftigte, insbesondere Menschen mit psychischer Erkrankung, das Teilhabegeld der Werkstattbeschäftigung vorzögen. Basener schlägt vor, auf die Anrechnung der Werkstattkosten zu verzichten und das Teilhabegeld als Lohnsubvention auszuzahlen. Im Gegenzug sollten seiner Meinung nach die Zahlungen der Rentenbeiträge auf das tatsächliche Lohniveau reduziert werden, um eine Gleichbehandlung gegenüber den auf dem Arbeitsmarkt tätigen Leistungsberechtigten zu erreichen. Auch auf die Zahlung der EU-Rente nach 20 Beitragsjahren solle verzichtet werden, da sie keine wesentliche finanzielle Verbesserung mehr darstelle und sich außerdem integrationshemmend auswirke. Im selben Zug sollte seiner Ansicht nach die Unterscheidung zwischen werkstattfähigen und nicht werkstattfähigen Beschäftigten aufgehoben und damit die doppelte Aussonderung des Personenkreises in Fördererstätten aufgehoben werden.

Der Paritätische hat mit seinem Vorschlag zu einem existenzsichernden Einkommen an ein wichtiges Thema gerührt. Die BAG WfbM nannte die Niedriglöhne in Werkstätten auf ihrer Internetseite jüngst „erbärmlich“. Es wäre zu wünschen, dass die Werkstätten und ihr Dachverband in der Entlohnungsfrage eine aktive Rolle übernehmen und eine Lösung vorantreiben, die ein existenzsichererndes Einkommen ermöglicht und die Rechte der Werkstattbeschäftigten wahrt. Martina Zeidler und viele andere Werkstattbeschäftigte würden es ihnen danken.

Das Diskussionspapier des Paritätischen zum Mindestlohn in WfbM finden Sie hier (PDF, ca. 90 KB).

Quelle: Newsletter 53° Nord, bearbeitet von Dominik Peter