Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil vom 15. November 2012 eine bisher von den Instanzgerichten unterschiedlich beurteilte Rechtsfrage abschließend geklärt.
In der Sache begehrte eine über 20-jährige Frau mit sogenannter geistiger Behinderung die Kostenübernahme für ein Depot-Kontrazeptivum (sog. 3-Monatsspritze). Wie dem Tatbestand des Urteils zu entnehmen ist, lebte die Frau bei ihrer Mutter und hatte bereits einen eigenen Sohn, der von der Großmutter erzogen wird.
In der Entscheidung ging es um die Frage, ob die angefallenen Kosten in Höhe von 50,48 Euro gegenüber dem zuständigen Sozialhilfeträger geltend gemacht werden können. Die Klägerin stützte ihren Kostenerstattungsanspruch auf Paragraph (Kurzform §) 49 SGB XII. Die Vorschrift ist überschrieben mit: „Hilfen zur Familienplanung“ und gewährt auch die Kosten für empfängnisverhütende Mittel. Allerdings sieht eine auf den ersten Blick nicht ganz klare Verweisungsregelung eine Einschränkung dieses Grundsatzes vor. Der Paragraph 52 Abs. 1 SGB XII besagt, dass die Vorschriften der Paragraphen 47 bis 51 den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen. Im Krankenversicherungsrecht, geregelt im SGB V, besagt jedoch die Vorschrift der Paragraph 24 a Abs. 2, dass Hilfen zur Empfängnisverhütung nur bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres erstattet werden. Folglich komme vorliegend eine Kostenerstattungspflicht für die über 20-jährige Klägerin nicht in Betracht, so das Bundessozialgericht.
Keine behinderungsspezifische Nachteile
Auch ein Leistungsanspruch im Rahmen der Eingliederungshilfe nach den Paragraphen 53 ff. SGB XII komme nicht in Betracht. Es lasse sich, so das Bundessozialgericht in seinen Entscheidungsgründen, nicht feststellen, „…dass über den allgemeinen Wunsch nach Empfängnisverhütung vor dem Hintergrund der klägerischen Lebensumstände hinaus durch eine Empfängnisverhütung spezifische behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen wären, um der Klägerin eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.“
Demzufolge, so das Bundessozialgericht, seien die Kosten für die Verhütungsmittel aus dem der Klägerin allgemein zuerkannten Regelsatz, der ihr gewährten Grundsicherungsleistung für erwerbsgeminderte Personen zu bestreiten. Allerdings, so das Bundessozialgericht, sei der Rechtsstreit an die untere Instanz zurückzuverweisen. Diese müsse prüfen, ob aufgrund der Besonderheit des Einzelfalls eine Erhöhung des Regelsatzes in Betracht käme.
Entscheidung wird begrüßt
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist insoweit zu begrüßen, als sie der in der (Fach-)diskussion zuweilen anklingenden Tendenz einen Riegel vorschiebt, wonach die im Krankenversicherungsrecht bestehende Altersgrenze auf Menschen mit sog. geistiger/schwerst mehrfacher Behinderung nicht anzuwenden ist. Dies stellt eine Diskriminierung dar, die den Interessen der Betroffenen in keiner Weise gerecht wird.
Somit wird auch die in der Entscheidung so konkret nicht angesprochene tiefere Bedeutung dieses Urteils erkennbar. Es geht nämlich hier auch um die Frage, inwieweit das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen durch die Vergabe von Verhütungspräparaten eingeschränkt wird.
Die im Krankenversicherungsrecht geltende Altersgrenze geht auch davon aus, dass Menschen im Alter von 20 Jahren in der Regel selbst entscheiden können, ob und welche Verhütungsmittel sie einsetzen können. Dieser Entscheidungsfindungsprozess ist bei Menschen mit sog. geistiger/schwerst mehrfacher Behinderung nicht ausgeschlossen, aber sicher mit Schwierigkeiten verbunden. Oftmals werden sie in wichtigen Lebensentscheidungen von einem gesetzlichen Betreuer vertreten. Hierbei handelt es sich in nicht seltenen Fällen um die eigenen Eltern. Ohne hier einen Pauschalverdacht auszusprechen, besteht doch die Gefahr, dass Eltern trotz bestehender Volljährigkeit ihrer Kinder aus Sorge um die mit dem möglichen Nachwuchs eintretenden Schwierigkeiten allzu schnell auf routinemäßige Art und Weise Verhütungsmittel verabreichen bzw. deren Abgabe legitimieren. Die berechtigte Sorge der Eltern, gerade auch wenn sie als gesetzliche Betreuer ihrer volljährigen Kinder fungieren, darf nicht zu einer völligen Verkennung deren sexuellen Selbstbestimmungsrechts führen. Dies gilt in besonderer Weise auch dort, wo die betreffenden Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben.
So kann gerade diese Entscheidung auch einen Ansporn für all jene darstellen, die Menschen mit geistiger /schwerst mehrfacher Behinderung als gesetzlicher Betreuer oder Unterstützer in Einrichtungen der Behindertenhilfe begleiten. Auch die Abgabe von Verhütungsmitteln sollte in diesem Falle immer von einem gemeinsamen Reflexionsprozess über (sexuelle) Bedürfnisse, den Wunsch nach Kindern oder andere spezifische Lebenslagen begleitet sein.
Umdenkungsprozess schreitet voran
Und um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: In den allermeisten Einrichtungen der Behindertenhilfe und bei den allermeisten als gesetzliche Betreuer fungierenden Eltern ist dies auch der Fall. Die Zeiten, wo Menschen mit Behinderungen pauschal das Recht auf Sexualität und/oder Kinderwunsch abgesprochen worden ist, sind lange vorbei. Vielmehr wird heutzutage in diversen Arbeitsgruppen, auf Fachtagungen und in anderer Form über Möglichkeiten diskutiert, alle Menschen unabhängig von Art und Ausmaß ihrer Behinderung in dem Wunsch nach Sexualität zu unterstützen. Einen Beitrag soll auch die Tagung „Trübe Sehnsüchte oder verwirklichte Rechte“ – Sexualität in Einrichtungen am 11. Oktober 2013 im Berliner Roten Rathaus leisten. Die Tagung wird gemeinsam vom Verein move e. V., der Sexualassistentin Stephanie Klee, dem Mitbegründer der Initiative Sexability, Matthias Vernaldi und dem Autor dieses Beitrages, Rechtsanwalt Dr. Martin Theben, initiiert. Auf dieser Tagung sollen die hier auch im Artikel angesprochenen Fragestellungen aus verschiedenster Perspektive vertieft diskutiert werden.
Von Dr. Martin Theben (BBZ, Oktober 2013)