Die Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) haben den Entwurf der Bundesregierung zu einem neuen Bundesteilhabegesetz begrüßt, sehen aber auch Erwartungen im Gesetzesentwurf noch unzureichend erfüllt. In einer gemeinsamen Resolution fordern die Landschaftsausschüsse der beiden Kommunalverbände eine Nachbesserung. Prof. Dr. Jürgen Wilhelm und Dieter Gebhard, Vorsitzende der Landschaftsausschüsse von LVR bzw. LWL: „Die berechtigten Erwartungen hinsichtlich der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllt der aktuelle Regierungsentwurf zum Bundesteilhabegesetz nicht. So werden beispielsweise Menschen mit Behinderung nach wie vor hinsichtlich der Leistungen aus der Pflegekasse diskriminiert und die Leistungssysteme Pflegeversicherung, Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe sind gesetzlich nicht eindeutig klar geregelt. Beide Landschaftsauschüsse erwarten daher, dass die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass Menschen mit Behinderung eine volle, wirksame und vor allem gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht wird.“
Die Forderungen von LVR und LWL im Einzelnen:
1. Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf bei der Inanspruchnahme der Leistungen der Pflegekasse ist zu beenden.
Menschen mit Behinderung, die in Wohneinrichtungen leben, erhalten bereits heute – unabhängig vom Pflegebedarf – nur eine auf 266 Euro pro Monat gedeckelte Pauschale (§ 43 a SGB XI). Dies ist eine nicht hinzunehmende Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Der vorliegende Entwurf hält an dieser Deckelung fest und weitet sie sogar aus. Menschen mit Behinderung werden damit weiterhin die vollen finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung versagt. Dieser Zustand ist zu beenden.
2. Die Schnittstelle zwischen den Leistungen der Eingliederungshilfe und den Leistungen zur Pflege muss transparent und eindeutig gesetzlich festgeschrieben sein.
Die Abgrenzung zwischen den Leistungssystemen der Pflegeversicherung, der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe sind nicht eindeutig und hinreichend klar geregelt; dies, weil der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff teilhabeorientiert ist (zum Beispiel Assistenzleitungen im außerhäuslichen Bereich wie Umkleiden, Toilettengang können sowohl der Pflege als auch der Eingliederungshilfe zugeordnet werden). Es ist zu erwarten, dass hieraus in der praktischen Umsetzung zahlreiche Rechtsstreitigkeiten entstehen werden, die letztlich auch die betroffenen Menschen belasten können. Dieses Konfliktpotenzial wird verschärft durch die unterschiedlichen Freigrenzen beim Vermögenseinsatz: bei der Eingliederungshilfe gilt ab dem 01.01.2020 künftig ein Vermögensfreibetrag von rund 50.000 Euro, bei der Hilfe zur Pflege sind es dann lediglich rund 25.000 Euro, also nur die Hälfte.
3. Alle Menschen mit Behinderung sollen am Arbeitsleben teilhaben können.
Alle Menschen mit Behinderung sollen – unabhängig vom Umfang ihres Unterstützungsbedarfs – Zugang zu Arbeits- und Beschäftigungsangeboten haben. In NRW ist dies bereits Realität. Das BTHG darf nicht dahinter zurückfallen. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass gerade Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf nicht ausgeschlossen werden dürfen, insbesondere dann nicht, wenn ihnen behinderungsbedingt die Teilnahme an einer vorgeschalteten Maßnahme der beruflichen Bildung verwehrt wurde. Die Landschaftsausschüsse erwarten von der Bundesregierung, dass der mit Erfolg praktizierte NRW-Weg (das heißt, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung Beschäftigung finden und nicht auf Tagesförderstätten verwiesen werden) zur Teilhabe am Arbeitsleben in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung weiterhin möglich bleibt.
4. Eine selbstbestimmte Lebensführung ist durch eine weitergehende Privilegierung von Einkommen und Vermögen zu stärken.
Die mit dem Entwurf geplante Anhebung von Einkommens- und Vermögensgrenzen kann ein erster Schritt zu einer selbstbestimmteren Lebensführung sein. Dennoch wird Menschen mit Behinderung keine vollständige Teilhabe damit ermöglicht. Vermögensfreigrenzen sollten so ausgestaltet sein, dass es Menschen mit Behinderung auch ermöglicht wird, beispielsweise auf den Erwerb von (selbstgenutztem) Wohneigentum anzusparen.
5. Die Herstellung inklusiver Lebensverhältnisse ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an deren Kosten sich der Bund beteiligen und einen Beitrag zur Entlastung der Träger der Eingliederungshilfe leisten muss.
Es ist zu erwarten, dass durch die Reform eine neue Kostendynamik ausgelöst wird, zum Beispiel durch die höheren Freibeträge bei Einkommen und Vermögen, dem neuen Behinderungsbegriff und durch erleichterte Zugangskriterien zur Teilhabe am Arbeitsleben (Wegfall Tatbestandsmerkmal wesentliche Behinderung / erhebliche Teilhabeeinschränkung). Die Reform der Eingliederungshilfe braucht eine verlässliche finanzielle Grundlage. Die Kosten der Eingliederungshilfe können nicht alleine von den Trägern der Eingliederungshilfe geschultert werden. Die Landschaftsausschüsse erwarten, dass der Bund – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – einen Beitrag zur finanziellen Entlastung der Träger der Eingliederungshilfe leistet. Da die Herstellung inklusiver Lebensverhältnisse eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, ist eine Drittelung der Kosten zwischen Bund, Land und Kommunen eine sachgerechte Lösung. Ein erster Schritt zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe könnte die Einführung eines Bundesteilhabegeldes sein. Wie wichtig eine dynamische Beteiligung des Bundes an der Eingliederungshilfe ist, zeigt sich daran, dass der zugesagte Entlastungsbetrag von fünf Milliarden Euro allein schon durch Kostensteigerungen in der Eingliederungshilfe zwischen Koalitionsvertrag (2013) und dem ersten Jahr der vollen, angekündigten Entlastung (2018) aufgezehrt sein wird.