Mindestlohn für alle, jetzt!

Würde kennt keine Ausnahmen – oder doch?

von: André Nowak

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Quelle: DGB

Am 3. Juli beschloss der Bundestag das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ (Drucksache 18/2010 neu). Zuvor hatten Redner aller Fraktionen die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland ab 2015 als Entscheidung mit historischer Tragweite gewürdigt. Im Zentrum der Diskussion standen die Ausnahmeregelungen für Praktikanten, Langzeitarbeitslose, Unter-18-Jährige und Zeitungszusteller, die von der Fraktion DIE LINKE heftig kritisiert wurden.

Auch die Gewerkschaften (DGB) forderte den Mindestlohn ohne Ausnahmen und startete dazu eine großangelegte öffentliche Kampagne. Die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) spielten dabei weder bei Bundestag und Bundesregierung, noch beim DGB eine Rolle, Vertreter der WfbM waren auch bei den Anhörungen in den Ausschüssen zum Gesetzentwurf nicht gefragt.

Mindestlohn für Werkstattbeschäftige

1,30 Euro beträgt der durchschnittliche Stundenlohn für behinderte Menschen, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, so der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK). In einem kürzlich auf YouTube eingestellten Film dokumentiert der Verband die Demonstration am 5. Mai für ein Bundesteilhabegesetz und Stimmen zur Forderung nach einem Mindestlohn in Werkstätten für behinderte Menschen. Der Verband kritisiert, dass behinderte Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, in der Regel in einem ganzen Monat nicht so viel verdienen, wie andere in wenigen Minuten. (siehe www.kobinet-nachrichten.org vom 7. August 2014). Auch Werkstatträte sowie andere Behindertenorganisationen fordern seit längerer Zeit für ihre Arbeit einen Lohn, von dem man leben kann.
Dies war für den Autor Anlass, an Berliner Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktionen nachfolgende Frage über die Internetplattform www.abgeordnetenwatch.de zu stellen: „Werden Sie sich dafür einsetzen, dass mit dem „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ auch mit Blick auf Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention) die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfBM) ebenso einen Anspruch auf den Mindestlohn bekommen? Wenn nein – warum nicht und welcher Lohn wäre nach Ihrer Auffassung für deren Arbeit angemessen? Die BBZ dokumentiert nachfolgend die Antworten. Sie zeigen, dass es durchaus noch Diskussionsbedarf gibt – in der Politik, bei der Gewerkschaft, mit den Trägern der Werkstätten, aber auch mit den Betroffenen und ihren Organisationen.

Linke und Grüne sehen Ungerechtigkeit

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) schrieb: „Ich wollte mich unbedingt dafür einsetzen, dass Beschäftigte in den Werkstätten für behinderte Menschen einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben. Ich habe eine solche Werkstatt besucht und die Beschäftigten warnten mich davor. Sie erklärten, viele Vergünstigungen zu besitzen, die dann wegfielen. Wir müssen also noch länger darüber diskutieren. Im Kern bin ich eigentlich dafür, aber nicht zum Nachteil der Menschen mit Behinderungen.“

Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) antwortete: „Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen erhalten für ihre Zeit, Energie und Arbeitsleistung gegenwärtig sehr wenig Geld. Das ist ungerecht. Werkstattbeschäftigte verdienen mehr Anerkennung für ihre Arbeit, auch in Form einer besseren Bezahlung.

xTrotzdem haben wir uns in der Debatte um das Tarifautonomiestärkungsgesetz nicht für einen Mindestlohn für Werkstattbeschäftigte eingesetzt. Ein Mindestlohn für Werkstattbeschäftigte würde nämlich nicht dazu führen, dass das Geld tatsächlich bei den Beschäftigten landet. Hintergrund ist die Tatsache, dass Arbeitsplätze in Werkstätten keine „normalen“ Arbeitsplätze sind.

Wer ernsthaft etwas an der finanziellen Situation von Werkstattbeschäftigten ändern möchte, muss also grundlegender ansetzen. Und es muss mehr und bessere Möglichkeiten für Werkstattbeschäftigte geben, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. Ein Mindestlohn, den man gleich wieder „abgeben“ muss, ist uns zu wenig.

SPD und CDU gegen Mindestlohn in Werkstätten

Eva Högl (SPD) schrieb: „Ob Menschen mit Behinderung Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben, hängt von ihrem Beschäftigungsverhältnis ab. Hierbei ist grundsätzlich zwischen Menschen mit Behinderung zu unterscheiden, die in Integrationsprojekten und die in Werkstätten für behinderte Menschen tätig sind.

Integrationsprojekte sind Unternehmen, die überdurchschnittlich viele schwerbehinderte Menschen beschäftigen (mind. 25 Prozent) mit dem Ziel, diese in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren. Die meisten Integrationsunternehmen sind rechtlich und wirtschaftliche selbstständige Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarkts, weswegen die dort beschäftigten Menschen Arbeitnehmer im klassischen Sinne sind, d.h. sie sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das gilt für behinderte und nicht behinderte Mitarbeiter/-innen in gleicher Weise. Daher haben in Integrationsprojekten beschäftige Menschen mit Behinderung Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn.

Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind hingegen Einrichtungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben, d.h. sie sind im Gegensatz zu Integrationsfirmen keine Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarkts. Denn Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind für Menschen da, die eben wegen ihrer Behinderung nicht in der Lage sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein, auch nicht in einem Integrationsbetrieb. § 138 Neuntes Buch Sozialgesetzgebung sieht für diese Menschen daher ein arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis vor. Das bedeutet: Die arbeitsrechtlichen Regelungen finden Anwendung soweit sie Recht begründen (z.B. über die gesetzlichen Grenzen der Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Mutterschutz). Die für Arbeitsverträge typischen Pflichten eines Arbeitnehmers haben Werkstattbeschäftigte wegen ihrer Behinderung hingegen nicht, wie z.B. zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Arbeit verrichten zu müssen. Auch können sie bei mangelhafter Leistung nicht gekündigt werden.

Da Werkstattbeschäftigte somit im Gegensatz zu Beschäftigten in Integrationsprojekten keine Arbeitnehmer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im klassischen Sinne sind und gewisse Sonderregelungen für sie bestehen, haben sie keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn.“

Dr. Martin Pätzold (CDU) antwortet: „Die Koalition setzt sich nachhaltig für einen flächendeckenden Mindestlohn ein. Die Arbeit von Menschen mit Behinderung ist in den §§ 136 ff SGB IX geregelt. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass diese eben in keinem konventionellen Arbeitsverhältnis stehen, was ihrer Situation auch nicht angemessen und nicht in deren Sinne wäre. Die dort errichteten besonderen Schutzvorschriften würden wegfallen, sofern ein klassisches Arbeitsverhältnis vorherrschen würde. In Integrationsbetrieben kann der Mindestlohn durch Ausgleichsanteile erreicht werden.

Ich denke, dass das eine sachgerechte Lösung im Sinne der Menschen ist, die in Werkstätten tätig sind. Für Rückfragen stehe ich Ihnen, wie in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehen, gerne auch persönlich zur Verfügung.“