Vom 29. September bis 3. Oktober befand sich auf Einladung des Berliner Behindertenverbandes „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (BBV) in der Hauptstadt Deutschlands eine Delegation des Moskauer Stadtverbandes des Allrussischen Behindertenverbandes (MGO VOI). Über den Besuch der Freunde aus Moskau berichteten wir in der vergangenen BBZ-Ausgabe. Hier nun ein Interview mit Nadeschda Lobanowa, der Vorsitzenden des Moskauer Verbandes über die Ergebnisse der Fahrt und ihre Eindrücke von den Treffen mit den deutschen Freunden.
Das Gespräch führten die stellvertretene Chefredakteurin der Moskauer Behindertenzeitung „Russkij Invalid“, Jelena Smidovitsch, und die Korrespondentin der Zeitung, Jekaterina Zotova.
Russkij Invalid: Was war für Sie das Interessanteste und Wichtigste bei dieser Fahrt?
Lobanowa: Am interessantesten waren die Treffen mit Behinderten selbst, ohne Amtspersonen und Beamte. Ich wollte von ihnen selbst erfahren, wie sie leben. Und, wissen Sie, nach allem, was ich von ihnen gehört habe, bin ich zu dem Schluss gekommen: unsere (russischen) Behinderten leben sehr gut.
Russkij Invalid: Eine unerwartete Schlussfolgerung …
Lobanowa: Gut, nehmen wir Sie, Katja (Jekaterina Zotova), als Beispiel. Sie arbeiten und Sie beziehen Rente. Ist es so?
Katja: Ja, es ist so.
Lobanowa: Ehrlich gesagt, bei uns sind die Löhne nicht so hoch. Wenn in Deutschland ein Behinderter 1.400 Euro verdient, klingt das viel, aber von diesem Geld geht die Hälfte für Wohnungsmiete, Strom- und Wasserkosten weg. Und dann müssen die arbeitenden Behinderten in Deutschland einen großen Teil ihres Verdienstes für behindertenspezifische Leistungen einsetzen, bevor sie staatliche Beihilfen bekommen.
Oder nehmen wir den sozialen Transport. In Moskau kann man sich das Sozialtaxi jeden Tag bestellen, ohne es zu bezahlen. In Berlin kann der behinderte Mensch den „Sonderfahrdienst“ für private Fahrten bestellen. Bei jeder Fahrt ist eine Gebühr zu bezahlen, die in zwei Stufen (nach der achten und ab der 17. Fahrt im Monat) steigt.
In Deutschland gibt es keine kostenlosen Gruppenfahrten. Und unsere Sportler fahren doch durch das ganze Land! Und nicht nur die Sportler. Bei uns ist der Tourismus für Behinderten viel besser entwickelt, als dort.
Russkij Invalid: Wirklich?
Lobanowa: Bei ihnen besteht der Tourismus aus individuellen Fahrten, und wir organisieren Gruppenfahrten. Wenn auch nicht in andere Länder, aber in die Regionen Russlands. Dafür aber zusammen, mit speziellen Bussen für Rollstuhlfahrer. Uns werden die Busse kostenlos gestellt, das Essen und Übernachtung bezahlen wir selbst. Nach unserer Meinung sind in Deutschland nicht nur der Tourismus, sondern auch der Behindertensport und die kulturelle Massenarbeit nicht besonders entwickelt. Wir haben die deutschen Freunde eingeladen, am Wettbewerb „Internationaler Preis der Philanthropen (Wohltätigen)“ teilzunehmen – sie sind daran interessiert.
Russkij Invalid: Es gibt die weit verbreitete Meinung, dass im Westen schon überall eine barrierefreie Umwelt gibt. Ist das wirklich so?
Lobanowa: Nein, es ist nicht so. In Berlin fahren zwar überall Niederflurbusse und die Haltestellen sind behindertengerecht. Aber auf hohe Bordsteine bei den Fußwegen trifft man ziemlich oft, sie muss man umfahren. Außerdem existiert in Berlin das Problem alter Straßen mit Pflastersteinen. Es ist sehr schwer, auf solchen Strassen im Rollstuhl zu fahren. Nicht besonders bequem sind auch alte Fußwegplatten mit breiten Spalten zwischen ihnen. Unser Moskauer Asphalt ist besser und wir haben auch gelernt, die Fußwegplatten hochwertig zu verlegen.
Es ist auch nicht besonders leicht, ein für Rollstuhlfahrer zugängliches Café oder Restaurant im Zentrum Berlins zu finden. Überall gibt es Stufen. Und innerhalb der Restaurants gibt es oft keine behindertengerechten Toiletten.
Die Theater und die Museen in Berlin sind zugänglich, aber der Eingang für die Behinderten ist oft ein Neben- oder Hintereingang und nicht der Haupteingang. Besonders hat uns das Theater (der Friedrichstadtpalast) in Erstaunen versetzt. Alle sitzen in Straßenbekleidung da oder mit der über die Rückenlehne gelegten Jacke. Im Foyer haben wir fast absolut leere Garderoben gesehen und über den Kleiderhaken steht aufgeschrieben, dass man anderthalb Euro bezahlen muss, um den Mantel abzugeben. Können sie sich das vorstellen?
Russkij Invalid: So ist der Erzkapitalismus: man muss alles bezahlen.
Lobanowa: Buchstäblich alles! Nach meinen Beobachtungen leben die deutschen Menschen mit Behinderungen viel bescheidener als Behinderte bei uns in Russland.
Russkij Invalid: Sie haben doch nicht nur die Schilderungen über die deutschen Errungenschaften gehört, sondern auch unsere Erfahrungen kundgetan?
Lobanowa: Natürlich! Wir wurden überall sehr herzlich empfangen – es sind angenehme und freundliche Menschen.
Russkij Invalid: Als Ergebnis Ihrer Reise entstand die Vereinbarung über die Zusammenarbeit und die gemeinsame Tätigkeit, in der vor allem Fragen der Verbesserung des Lebens der Moskauer und Berliner Menschen mit Behinderungen, ihrer Integration in gesellschaftliches Leben sowie die barrierefreie Umgebung berührt wurden. Wie planen Sie die weitere Entwicklung unserer Beziehungen?
Lobanowa: Wir werden den Erfahrungsaustausch fortführen und uns gegenseitig zu Veranstaltungen einladen. Für uns ist der Meinungsaustausch zu den Themen Beschäftigung, kulturelle Massentätigkeit, wie auch die barrierefreie Umwelt von großem Interesse. Das hilft uns, die Probleme der Menschen mit Behinderungen besser an unsere Regierung heranzutragen und mögliche Lösungswege zu unterbreiten.
Die Berliner sind an unseren Erfahrungen ebenso interessiert und für sie sind solche Treffen ein Anlass, die Aufmerksamkeit der Behörden auf die eigenen Probleme zu lenken. So dass ich hoffe, dass wir durch diese Treffen das Leben der Menschen mit Behinderungen sowohl in Berlin als auch in Moskau verbessern werden!
Foto: Oksana Smidovich, Übersetzung: Olga Rödel, Redaktion: André Nowak