Die schwedische Gemeinde Sollefteå entwickelt sich von einer Garnisionsstadt zum Zentrum für barrierefreien Tourismus. Siegurd Seifert sprach darüber mit Johnny Högberg, dem Chef der Verbandsgemeinde.
Aus deutscher Sicht besteht Nordschweden aus Wäldern, Einsamkeit und noch einmal Wäldern. Warum soll ein Tourist ausgerechnet in Sollefteå seinen Urlaub verbringen? Was hat die Region zu bieten?
Einsamkeit klingt so traurig. Wir reden lieber von Freiheit. In Berlin wohnen 3.500 Einwohner, in der Gemeinde Sollefteå 3,5 Einwohner pro Quadratkilometer. Je weniger Menschen, desto mehr persönlicher Freiraum. Weniger Menschen, das bedeutet auch mehr mit- und füreinander da sein. Deswegen ist es hier insbesondere für Menschen mit Behinderungen erfreulich stressfrei. Bei uns wird man nicht alleine, sondern in Ruhe gelassen. Wir haben aber neben der erholsamen Ruhe in sehr guter Luft Outdoor-Abenteuer und dem Erlebnis der Wildnis des Nordens auch eine Menge Kultur zu bieten. So gibt es bei uns in der Nähe der umfangreichsten Felszeichnungen (eigentlich Felsritzungen) der Steinzeit in Nordeuropa jedes Jahr ein großes alternatives Musik- und Kulturfestival, Urkult, mit Besuchern aus der ganzen Welt. Und nur wenige wissen, dass das Ångermannland, in dessen Kern Sollefteå liegt, die Wiege vieler nordischer Mythen und Sagen ist.
Wie lösen Sie die logistische Frage? Sind ausreichend Transportmöglichkeiten auch für mobilitätseingeschränkte Personen vorhanden?
Wir wissen aus unseren Untersuchungen, dass die Hälfte der Touristen aus dem Süden mit ihren eigenen Autos anreisen wird. Autofahren in Skandinavien ist nicht vergleichbar mit Reisen auf deutschen Autobahnen. Schon wegen der Geschwindigkeitsbegrenzungen geht es im Norden weit gemütlicher zu. Im Falle des öffentlichen Personenverkehrs sind wir noch nicht zufrieden mit den Kapazitäten, aber zum Glück ist Sollefteå immer noch ein Geheimtipp für Personen mit Behinderungen und wir sind noch nicht an unseren Grenzen angekommen. Aber das kann schnell passieren.
Wenn sich ein Tourist entschließt, ihre Gemeinde zu besuchen, wie kommt er überhaupt dort hin?
Sollefteå liegt dort, wo selbst für die Mehrzahl der Schweden der Norden anfängt. Man kommt mit der Bahn von Berlin bis Kramfors, von dort weiter per Mietwagen. Auf Anfrage hin lassen sich Kleinbusse organisieren. Flug bis Stockholm, von dort am Besten mit der Bahn bis Kramfors.
Ist die Infrastruktur auf Touristen vorbereitet? Gibt es genügend barrierefreie Quartiere?
Darin sehen wir eigentlich unsere besondere Stärke: Ein Mensch mit Behinderung ist kein Zombie, sondern ganz selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Und selbstverständlich gibt es für Alle geeignete Unterkünfte, so gut wie jede Toilette ist behindertengerecht. Und wenn etwas nicht vorgesehen ist, dann sorgt die natürliche Hilfsbereitschaft der Menschen hier oben für Abhilfe.
Ist die Region eher für Individualtouristen geeignet oder stellen Sie sich auch Gruppenreisen vor?
Wir setzen auf Individualtourismus oder kleinere Gruppen. Wenn übers Jahr eintausend Besucher kämen und nur fünf Tage bei uns verweilten, dann wären wir schon zufrieden. Das wären im Schnitt 20 Gäste pro Woche, verteilt über eine Fläche, doppelt so groß wie das Großherzogtum Luxembourg. Sollefteå bietet sich als Zwischenetappe oder Endziel eines Skandinavienurlaubs an.
Sie gehen das gesamte Projekt „Barrierefreier Tourismus“ sehr planvoll an. Können Sie in kurzen Worten die Etappen des Projekts schildern?
Nachdem wir seit vielen Jahren Gastgeber paralympischer Sportveranstaltungen sind, kam zuerst mal die Idee auf, unsere Erfahrung nicht nur behinderten Elitesportlern sondern auch allen Skandinavienreisenden anzubieten. Wir haben daraufhin eine kleine Machbarkeitsstudie entwickelt und eine Inventur gemacht, wo unsere Stärken sind, was noch fehlt und wie wir uns verbessern können. Jetzt wollen wir die Theorie in die Praxis umsetzen. Dabei arbeiten wir nun auch eng zusammen mit unseren Nachbargemeinden. Wir haben uns zusammengeschlossen zum Tourismusverbund Höga Küsten und so profitiert die gesamte Region von unserem Know-How, von der Küste bis zum Rand der Berge.
Ist das Projekt eher ein Forschungsobjekt der Mitt-Schweden Universität oder steht die Politik dahinter?
Das Projekt ist in ersten Linie ein politisches Vorhaben. Wir haben hier aber das Glück, dass die Universität in Sundsvall einen weltweit einzigartigen Studiengang für barrierefreies Design anbietet. Davon wollen wir in Zukunft noch weit mehr profitieren. Sollefteå soll auch ein Forschungsstandort für barrierefreien Tourismus werden.
Tourismus kann eine ganze Region nachhaltig verändern. Stehen die Einwohner, Gaststättenbesitzer, Hoteliers und Gewerbetreibenden hinter dieser Idee?
Ganz ehrliche Antwort: So und so. Grundsätzlich ist das Bewusstsein um Barrierefreiheit bei allen sehr hoch. Zum einen ist das schwedische Grundeinstellung, zum anderen kommt hier unsere Erfahrung mit den paralympischen Winterspielen zum Tragen. Aber klar, es gibt auch bei uns den Einen oder Anderen, der unseren Zielen skeptisch gegenüber steht.
Wie ist der Stand im Augenblick? Können die Touristen kommen?
Pioniere, auf der Suche nach neuen Zielen abseits ausgetretener Tourismuspfade, sind heute schon herzlich willkommen. Bei uns bekommt man kein Standardprogramm. Jeder Mensch ist einzigartig. Für einzigartige Menschen gibt es keine Standardprogramme. So denken wir im Norden, und wir freuen uns auf einzigartige Gäste.