Stellungnahme des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD) zu drei aktuellen Gesetzesvorhaben der Bundesregierung (Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BBG), Bundes-Teilhabegesetz (BTHG), Pflegestärkungsgesetz III (PSG III))
Unsere Gesamteinschätzung ist, daß die Regierung mit den drei aktuellen Gesetzesinitiativen (Behindertengleichstellungsgesetz; Bundes-Teilhabegesetz; Pflegestärkungsgesetz III) die Weichen falsch stellt und Schritte in die falsche Richtung zu lenken beabsichtigt. Wenn diese Gesetze so – oder geringfügig modifiziert – in Kraft treten, muß die Behindertenbewegung einen herben Rückschritt konstatieren. Weder die Art. 1 und 3 des Grundgesetzes noch die UN-Behindertenrechtskonvention werden ernstgenommen und umgesetzt. Das wird insbesondere im Zusammen-wirken aller drei Gesetze deutlich. Von einer Weiterentwicklung des deutschen (Behinderten)Rechts – u.a. Ermöglichung voller, wirksamer und gleichberechtigter Teilhabe, umfassende Barrierenvermeidung und systematische Barrieren-beseitigung, diskriminierungsfreier Umgang – könnte keine Rede sein. Im Gegenteil: institutionelle Bevormundung und fremdbestimmte Gängelei nähmen zu, familiäre und anderweitig selbstorganisierte assistierende und begleitende Pflege bzw. pflegende und begleitende Assistenz in familiären oder anderweitig selbstorganisierten Strukturen außerhalb von anstaltsähnlichen Einrichtungen würden erheblich geschwächt bzw. erschwert.
Die Hauptmängel
Hauptmängel aller drei Gesetzesinitiativen sind:
- Sie mißachten jedweden menschenrechtsbasierten, emanzipatorischen Anspruch.
- Sie ignorieren, daß Diskriminierung geächtet und geahndet werden muß.
- Sie bleiben der bevormundenden Sozialhilfe-Logik verhaftet.
- Sie erschweren selbstbestimmte Lebenskonzepte (mit Assistenz).
- Sie dienen eben nicht der Teilhabeermöglichung, sondern verharren in medizinisch-pflegerischer Aussonderungsbürokratie.
- Sie gleichen weder die kollektiven (kommunikative und bauliche Barrieren in allen Bereichen) noch die individuellen (Assistenzbedarf in allen Lebensbereichen und jedem Lebensalter) Nachteile wirksam aus.
Die Verlierer
(Haupt)Verlierer dieser Gesetze wären – wenn sie denn in Kraft träten – in erster Linie
- Kinder und Jugendliche,
- Alte (Rentnerinnen und Rentner),
- Menschen, die nie „wirtschaftlich verwertbare Leistung“ erbringen können und
- deren Angehörige sowie
- alle zukünftigen Generationen körperlich oder sinnesbeeinträchtigter Personen, die nicht unter „Bestandsschutz“ fallen.
Die Gewinner
(Haupt)Gewinner dieser Gesetze wären – wenn man überhaupt von „Gewinnern“ sprechen möchte – in erster Linie
- Aufbewahrungs-Anstalten für Dauer- oder zeitweilige Unterbringung
- ambulante und stationäre Versorgungs-Dienste jedweder Größe
- Sozialämter bzw. kommunale Kassen(warte)
Vielleicht könnten – das ist aber längst noch nicht sicher – auch einige Menschen mit Demenz-Erscheinungen (und deren Angehörige) kleine Gewinner dieser Gesetze werden? Wenn, dann allerdings auf Kosten körperlich oder sinnesbeeinträchtigter Menschen, die nicht unter „Bestandsschutz“ fallen oder „nur“ ein „zählbares“ Handicap haben.
Wie sich diese Gesetze auf die Lebenssituation von Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. sogenannter „geistiger Behinderung“ und auf die Psychiatrie-Erfahrenen (und jeweils deren Familien) auswirken, können wir momentan noch nicht beurteilen.
Begründung:
Alle drei Gesetzes-Vorhaben müssen zusammen – und in ihren Wechselwirkungen – betrachtet und bewertet werden. Die meisten uns bekannten bisherigen Stellungnahmen beziehen und bezogen sich vorrangig auf die Novellierung des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes (BBG) und/oder auf das angekündigte Bundes-Teilhabegesetz (BTHG). Auch die meisten der aufwändigen Vorab-Befragungen, „hochrangigen Expertengremien“ und öffentlichen Anhörungen, die im Geschäfts-bereich des BMAS liefen, beziehen und bezogen sich darauf. Deshalb schauten wir vom ABiD uns erst einmal an, was denn das Pflegestärkungsgesetz III (PSG III) aus dem Geschäftsbereich des BMG so bringen soll.
Stärkt weder Familienpflege noch selbstorganisierte Assistenz
Und siehe da: Es will „professionelle“ Pflege stärken. Aha! Das heißt also: w e d e r Familienpflege n o c h selbstorganisierte Assistenz. Die Praxis des bereits in Kraft befindlichen PSG II bestärkt unsere Befürchtungen: Finanzielle Ressourcen werden in erster Linie in fremdbestimmende Strukturen gelenkt. Daß der größte pflegerische Aufwand von (ungeschulten und – quasi selbstverständlich – unbezahlten) Familienangehörigen betrieben wird, findet wieder nur in „warmen Worten“ eine Würdigung. Ähnlich verhält es sich mit Nachbarschaftshilfe. Kaum weniger „suspekt“ erscheint in diesem Lichte jede Form selbstorganisierter personaler Assistenz.
Woran das erkennbar ist? An den Finanzströmen. Es fließen ja beträchtliche Summen. Sowohl aus der Pflegeversicherung (SGB IX) als auch aus der „Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII (Sozialhilfe). Diese sollen nicht nur nicht erhöht, sondern möglichst sogar gesenkt werden. Ein absurdes Ziel, wenn wirklich die Absicht bestünde, die Teilhabemöglichkeiten auch für Menschen zu vergrößern, die begleitende Pflege bzw. pflegerische Begleitung und Assistenz brauchen. Deutlich wird das beispielsweise an den im PSG II hochgelobten „zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen“. Sie verheißen 104,00 €uro/Monat (unter bestimmten Voraussetzungen 208,00 €uro/Monat). Sie werden häufig sogar „bewilligt“. Aber ausgezahlt werden sie nur an „professionelle Pflegeanbieter“. Gebraucht würden sie jedoch z.B., wenn man einer Nachbarin, die gelegentlich mal einige Einkäufe miterledigt, oder einem Studenten, der hin und wieder jemanden zur Disco begleitet, von Zeit zu Zeit mit 10,00 oder 20,00 €uro „Danke“ sagen möchte. Stattdessen versenden Pflegekassen z.B. in Berlin seitenlange Listen mit “professionellen Anbietern“, mit denen sie jederzeit bereit sind, Verträge zu schließen. Daß man so maximal 4 – 5 Stunden/Monat – also vielleicht einen begleiteten Kinobesuch? – „erkaufen“ kann, spielt keine Rolle.
Sachleistungen stärken nur „institutionelle Anbieter“
Wer pflegenden Familienangehörigen helfen und/oder selbstorganisierte Assistenz verbessern wöllte anstatt „Heime auszulasten“, würde als erstes in der Pflegeversicherung (SGB IX) die Geldleistungsbeträge auf die Höhe der Sachleistungen anheben. Aber: Weit gefehlt! Auch die Umstellung auf fünf Pflegegrade und die Verwendung eines etwas weniger medizinischen Pflegebegriffs ändern daran gar nichts. „Sachleistungen“ stärken aber nur „institutionelle Anbieter“. Und es bleibt zu befürchten, daß für viele zukünftig auf Pflege Angewiesene – die also keinen Bestandsschutz haben werden – eher geringere Leistungen „bewilligt“ werden.
Einkommens- und Vermögensgrenzen gelten unvermindert fort
So richtig prekär wird es aber, wenn man auch hinschaut, wie zukünftig mit der „Hilfe zur Pflege“ verfahren werden soll. Sie soll nämlich nicht nur im SGB XII verbleiben. Nein, dafür sollen „selbstverständlich“ auch die alten – diskriminierenden – Einkommens- und Vermögensgrenzen weitergelten! Hinzu kommt, daß festgeschrieben wird, bei „überwiegend häuslicher Pflege“ der „Hilfe zur Pflege“ Vorrang vor der „Eingliederungshilfe“ zu geben. Damit erweisen sich alle Beteuerungen, daß die Anhebung der Einkommens- und Vermögensgrenzen bei der ins SGB IX kopierten „Eingliederungshilfe“ ein „erster Schritt“ im „Paradigmenwechsel“ sei, als pure Heuchelei. Die Praxis zeigt seit Jahren, daß selbstorganisierte persönliche Assistenz (z.B. im „Arbeitgebermodell“) immer einen Anteil „Hilfe zur Pflege“ enthält. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß sich daran etwas ändern würde. Also: Die alten Einkommens- und Vermögensgrenzen gelten unvermindert fort!
Es gäbe noch Vieles zu sagen. Doch es wären vielfach Wiederholungen bereits (auch von anderen Betroffenenvertretungen) mehrfach geäußerter Kritikpunkte. So soll hier nur noch summarisch – und beispielhaft; ohne Vollständigkeitsanspruch – gesagt werden, daß der ABiD nach wie vor auch folgendes für nicht akzeptabel hält:
- Die Weigerung der Regierung, Barrierefreiheit (mit Fristen und Sanktionen; ggf. auch mit Fördermaßnahmen) auch für die Privatwirtschaft verbindlich festzuschreiben.
- Den Versuch der Regierung, durch „Zwangspoolen“ das Selbstbestimmungsrecht systematisch zu unterlaufen.
- Das Festhalten an einem auf Erwerbsarbeit fokussierten Leistungsbegriff, der viele Gruppen (Jugendliche, Rentner, Menschen, deren Fähigkeiten nicht „wirtschaftlich verwertbar“ sind) von vornherein von der Ermöglichung selbstbestimmter Teilhabe durch Nachteilsausgleiche ausschließt.
- Äußerst vage Verordnungsermächtigung, endlich existenzsichernde, institutionelle Förderung für Selbstvertretungs-Organisationen einzuführen,
- was befürchten läßt, daß „Wohlverhalten“ erwartet bzw. vorauseilende Abschwächung von Regierungskritik „belohnt“ wird.
- Der Wegfall von Begriffen wie „stationär“ oder „teilstationär“ führt ja nicht zur Abschaffung dieser Aussonderungs-Anstalten, sondern das dient nur der Verschleierung des Zwangs zu (kostensparenden) Heimeinweisungen.
- Aus-Sonderwelten wie Förder- bzw. Sonderschulen und Behindertenwerkstätten bleiben unangetastet.