Am 1. Dezember beschloss der Deutsche Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz. Es soll die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behinderter Menschen umfassender als jemals zuvor regeln.
„Wir werden noch viele Baustellen in der Zukunft haben“, erklärt Ministerin Nahles zu Beginn der Bundestagsdebatte zum BTHG. Grünen-Politikerin Göring–Eckardt entgegnet ihr, ein Haus bauen zu wollen, eine Garage sei es geworden.
Das Jahr 2016 war von spektakulären Protestaktionen gekennzeichnet: Anketten am Reichstagsgebäude, Mahnwache vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales bis zum Schwimmen in der Spree einte alle Menschen mit Behinderung die Wut auf die Missachtung ihrer Lebensumstände. „Meine Kolleginnen und Kollegen haben sich bei mir bitter beklagt, welche Anrufe sie bekommen haben, welche Form von Anrufe, welche E-Mails und wie die Dinge gelaufen sind“, stellt der CDU-Mann Karl Schiewerling fest. Das Gesetz ist verabschiedet, die Frage stellt sich, ob die Proteste etwas bewirken konnten.
Wie viele Lebensbereiche dürfen es denn sein?
Einer der meistdiskutierten Punkte war der Paragraf 99, der definiert, wer denn überhaupt zum leistungsberechtigten Personenkreis gehört. Dort sind neun Lebensbereiche definiert, von denen fünf beziehungsweise drei zutreffen müssen. „Drei aus neun ist verbrannt, fünf aus neun ist verbrannt“, stellt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe, Stephan Stracke, fest. „Wir brauchen eine wissenschaftliche Definition.“ Bis diese Fragen geklärt sind, bleibt es bei der bisherigen Regelung.
Bis eine neue Definition gefunden und wissenschaftlich abgesichert, diese in den Kommunen einen Praxistest durchlaufen hat, soll sich an den bisherigen Regelungen also nichts ändern. Erst im Jahr 2023 würde die Neufassung in Kraft treten, erklärt Katja Mast, Sprecherin für Arbeit und Soziales der SPD-Bundestagsfraktion.
Die Schwierigkeit in diesem Paragrafen liegt in zwei unbestimmten Rechtsbegriffen:
Größere Anzahl
Bei manchen Menschen sind weniger Lebensbereiche betroffen, die aber sehr intensiv.
Geringere Anzahl
Wenige Lebensbereiche sind betroffen, die aber sehr intensiv.
Letztendlich geht es immer um die Frage der wesentlichen Behinderung und gerade diese Unbestimmtheit lässt bei den Kostenträgern viel Interpretationsspielraum zu.
Wahlrecht der Wohnform oder nicht?
Wird die Leistung für einen behinderten Menschen zu teuer, kann er zu einen Umzug in ein Heim oder eine stationäre Einrichtung verpflichtet werden. Gezwungen werden drückt übrigens den gleichen Sachverhalt aus, verpflichtet klingt aber nicht so hart, es ist eben Politikersprache.
„Es bleibt beim Wahlrecht. Das Wunsch- und Wahlrecht steht im Mittelpunkt und deswegen sollen die Menschen selbst entscheiden, wie sie das wollen“, widerspricht heftig Karl Schiewerling, der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion. Man habe deshalb die Assistenzleistung von der Wohnform getrennt. Allerdings, räumt er ein, könne es Situationen geben, dass bestimmte Dinge nicht mehr zumutbar seien, auch nicht für den Leistungserbringer, sprich also, für das Amt, welches die Wohnung oder die Assistenz bezahlen müsste. Ein Schelm, wer dabei Arges denkt. Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege sind gleichberechtigte Bereiche, betont auch Katja Mast. „Aber die Pflegeversicherung ist der Verbindlichere am Tisch!“
Ein Mensch hat subjektive Bedürfnisse, keine abstrakten Bedarfe!
Für Rechtsanwalt Dr. Martin Theben kommt das geänderte Gesetz als Trojanisches Pferd daher. „Nach dem Gesetzeswortlaut findet auch in bezug auf die Wohnform zunächst eine abstrakte Angemessenheitsprüfung statt“, betont er in einer Stellungnahme. „Erst wenn nach diesem Prüfungsschritt ein Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen in Betracht kommt, soll es dann auf die Wünsche des Betreffenden ankommen. Das entspricht aber letztendlich der geltenden Rechtslage und verhindert Zwangseinweisungen in Heime aus Kostengründen gerade nicht.“
… und die Sicht der Betroffenen?
Die Lebenshilfe sieht sehr viele der nachteiligen Regelungen durch die Änderungsanträge verbessert. „Es ist ein toller Erfolg für Menschen mit Behinderung, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung weiterhin nebeneinander in Anspruch genommen werden können“, so Ulla Schmidt, Bundestagsvizepräsidentin und Vorsitzende der Lebenshilfe.
Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen befürchtet auch weiterhin eine Tortur für die Betroffenen, die um ihre Selbstbestimmung vor Gerichten kämpfen müssen
Raoul Krautenhausens lakonischer Kommentar nach dem Pressegespräch zum BTHG: „Es ist nach wie vor nicht mein Gesetz!“.
Zeitplan § 99
- 2017
Durchführung einer wissenschaftlichen Untersuchung.
- 2018
Erster Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung an das Parlament.
- 2019 – 2021
Evaluierung der Ergebnisse in den Bundesländern. Der Zugang bleibt wie bisher, parallel dazu werden die neuen Kriterien ausprobiert.
- 2022
Beratung der endgültigen Kriterien im Bundestag
- 2023
Beschlußfassung im Bundestag. Der neue § 99 tritt in Kraft.