Stiftung „Hilfe und Anerkennung“

Gedemütigt, missbraucht, misshandelt

von: Kurt Hermann

Eines Tages stürmte eine Schwadron weißbekittelter Männer und Frauen in unsere Schule. Innerhalb einer Stunde waren alle Schüler gegen Gelbsucht geimpft worden. Die Nebenwirkungen dieser Spritze waren so stark, dass die gesamte Schule für drei Tage schließen musste. Meine Eltern waren entsetzt, hatte sie doch kein Mensch informiert.

Das geschah Anfang der sechziger Jahre in einer ganz normalen Grundschule in der ehemaligen DDR. Wenn hier schon so unverfroren mit den Menschen umgegangen wurde, um wie viel schlimmer muss es dann in den Heimen der Behindertenhilfe und in psychiatrischen Einrichtungen zugegangen sein. Körperliche und sexuelle Gewalt sowie Medikamententests standen auf der Tagesordnung, übrigens sowohl diesseits als auch jenseits der Mauer.

Opfer erhalten ab 2017 Hilfe

Nach langen Diskussionen hat nun das Bundeskabinett beschlossen, die Opfer dieser Gewalt ab 2017 zu entschädigen. Der Bund, die Länder sowie die evangelische und katholische Kirche zahlen insgesamt eine Summe von 288 Millionen in eine Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ ein. Aus diesem Fond sollen Betroffene einen Pauschalbetrag von je 9.000 Euro und Rentenersatzleistungen von 3.000 und 5.000 Euro erhalten. Deutschlandweit würde das übrigens rund 97.000 Frauen und Männer betreffen, die im Westen in der Zeit vom 23. Mai 1949 – 31. Dezember 1975 und im Osten vom 7. Oktober 1949 – 2. Oktober 1990 in Heimen der Behindertenhilfe und Psychiatrien untergebracht wurden. „Es ist beschämend, dass die Betroffenen deutlich geringere finanzielle Leistungen erhalten als ehemalige Heimkinder aus der Kinder- und Jugendhilfe“, regt sich Corinna Rüfer, Behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, auf. „Leider waren der Politik Kostenerwägungen wichtiger als eine angemessene Anerkennung des Unrechts“. Heimkinder aus Jugendhilfeeinrichtungen haben bis zu 10.000 Euro für Sachleistungen erhalten und Rentenersatzleistungen von 300 Euro pro Monat geleisteter Arbeit. Das können im Einzelfall bis zu 25.000 Euro sein.

Antragstellung soll barrierefrei zugänglich sein

Bis spätestens April 2017 sollen Anlauf- und Beratungsstellen geschaffen werden, die bei der Antragstellung und der Verarbeitung des Geschehenen behilflich sein sollen. Um die Entschädigung zu erhalten muss nicht nur der Nachweis einer Unterbringung in einem der genannten Einrichtungen vorhanden sein, es muss auch „noch heute eine Folgewirkung aufgrund des dort erlittenen Leids und Unrechts während der Unterbringung vorliegen“, erklärt Verena Bentele, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.

Der Deutsche Behindertenrat hat sich bereits im Sommer dafür ausgesprochen, dass die Glaubhaftmachung einer Unterbringung in einer für Gewalt, Missbrauch und Arbeit ohne Bezahlung bekannte Einrichtung der Behindertenhilfe oder Psychiatrie reichen muss.

Die in den Anlaufstellen aufgenommenen Berichte sollen wissenschaftlich ausgewertet werden, um zu einer gesellschaftlichen Anerkennung der Betroffenen und ihrer Demütigungen, Misshandlungen und Missbrauchs zu kommen.

Die Anlaufstellen sollen barrierefrei sein, die nötigen Formulare und Dokumente auch in Leichter Sprache vorliegen.

 

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