Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller lud kürzlich zum EINEWELT-Zukunftsforum nach Berlin. Über tausend Menschen kamen, um über globale Zukunftsfragen und Nachhaltigkeit zu diskutieren. Umjubelt nahm Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel eine in den vergangenen Monaten erstellte Zukunftscharta entgegen. Das Strategiepapier soll als Grundlage für das Entwicklungsjahr 2015 dienen und greift auch behinderungspolitische Fragen auf.
Die Zukunftscharta wurde auf Initiative des Bundesentwicklungsministers gemeinsam von Vertretern aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Kirchen und der Wirtschaft erarbeitet. Deutschlandweit konnten sich Bürger in regionalen Foren oder über eine Internetplattform beteiligen. Auch Organisationen und Vertreter der Behindertenbewegung haben ihre Anliegen in die Charta eingebracht.
Das EINEWELT-Zukunftsforum im Station-Berlin in Kreuzberg war gut besucht und hochkarätig besetzt. Neben der Bundeskanzlerin (CDU) und dem Bundesentwicklungsminister (CSU) kamen die Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks (SPD), Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und der Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) zur Veranstaltung. Auch internationale Gäste wie der Unicef-Exekutivdirektor Anthony Lake beteiligten sich. Per Videobotschaft sendete Bill Gates ein Grußwort an die Teilnehmer. Rund 100 Initiativen und Akteure aus ganz Deutschland luden zu Workshops, Talks und Zukunftsslams ein. Zum bunten Publikum gehörten neben entwicklungs- und umweltpolitischen Experten viele Schüler und Mitglieder kleiner und großer Nichtregierungsorganisationen.
„Was können wir in Deutschland tun, damit Menschen mit Behinderungen bei uns besser am Leben teilhaben können?“
Die Christoffel-Blindenmission (CBM) organisierte eine Erlebnisinsel. Mit Kopfhörern, Brillen, Krücken oder einem Rollstuhl ausgestattet konnten Besucher erfahren, wie es ist, sich mit einer Behinderung zurechtzufinden. In einem Quiz erfuhren die Besucher, dass rund 80 Prozent der Menschen mit Behinderungen weltweit in Entwicklungsländern leben. Bei ausreichender Ernährung und medizinischer Versorgung wäre rund die Hälfte der Behinderungen vermeidbar. Auf großen Pinnwänden konnten interessierte Teilnehmer Fragen beantworten und Lösungen vorschlagen: „Was können wir in Deutschland tun, damit Menschen mit Behinderungen bei uns besser am Leben teilhaben können?“ „Was muss geschehen, damit Menschen mit Behinderungen in den ärmsten Ländern der Welt ebenfalls die gleichen Rechte und Chancen bekommen wie ihre Mitmenschen?“ „Was muss vor Ort passieren und was kann die deutsche Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen?“.
Die beiden letzten Fragen spiegeln sich in der an Bundeskanzlerin Merkel überreichten Zukunftscharta wieder. Das 64-Seiten Werk ersetzt das bisherige entwicklungspolitische Konzept des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und definiert die Leitlinien für die deutsche Entwicklungspolitik der kommenden Jahre. Die Charta soll auch als Strategiepapier für das ereignis- und entscheidungsreiche Entwicklungsjahr 2015 dienen. 2015 übernimmt Deutschland den G 7 Vorsitz, Ende des Jahres findet die UN-Klimakonferenz in Paris statt und im sogenannten Post-2015 Prozess werden die Millenniumsziele der Vereinten Nationen zu Nachhaltigkeitszielen weiterentwickelt.
Die Charta formuliert acht übergeordnete Handlungsfelder: Menschenwürde, Wirtschaft, Frieden, Internationale Zusammenarbeit, Gute Regierungsführung und Menschenrechte, Umweltschutz, Neue Technologien sowie den Schutz kultureller und religiöser Vielfalt. Das Thema Behinderung taucht mehrmals im Dokument auf. So wird die Missachtung der Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisiert und auf ihr besonderes Armutsrisiko verwiesen. Behinderungsbedingte Diskriminierungen im Zugang zu Gesundheit werden ebenso angesprochen wie geringe Chancen auf Bildung.
Der Geschäftsführer der Christoffel-Blindenmission, Dr. Rainer Brockhaus, zeigt sich in einem Kommentar zur Charta insgesamt erfreut, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen aufgenommen wurden. Er mahnt aber: „Jetzt müssen diesen Forderungen Taten folgen, sonst verliert die Entwicklungszusammenarbeit ihre politische Glaubwürdigkeit.“ Mit diesem Appell steht Brockhaus nicht allein. Dr. Bernd Bornhorst, Vorstandsvorsitzender von VENRO, dem Verband deutscher Nichtregierungsorganisationen, fordert für die Ziele der Charta „einen Umsetzungsplan mit einem festen Zeitrahmen sowie eindeutigen Zuständigkeiten.“
Miriam Maier von der CBM erklärte während ihres Einsatzes auf der Erlebnisinsel es komme jetzt darauf an, messbare Indikatoren für Inklusion zu entwickeln. Nur so könne die Umsetzung der Charta überprüft werden. Auch für den Post-2015 Prozess und die dort zu verabschiedenden globalen Nachhaltigkeitsziele seien Indikatoren und deren Überprüfung entscheidend.
In seinem Vorwort zur Charta bezeichnet der Bundesentwicklungsminister das Papier als ein „Referenz-Dokument, an dem wir uns alle messen lassen wollen“. Auf der Abschlussveranstaltung des Zukunftsforums gab Müller an, die Übergabe der Charta sei ein „Startschuss“. Jetzt müsse die Umsetzung folgen.
Die Bundeskanzlerin zeigte sich bei der Übergabe der Charta beeindruckt von dem Papier und von der Veranstaltung. Sie würdigte die partizipatorische Erarbeitung der Charta von unten nach oben. Auch die globalen Nachhaltigkeitsziele, die 2015 verabschiedet werden sollen, würden nicht mehr nur den Süden betreffen. Deutschland trage Verantwortung.
Diese Verantwortung war bereits im Diskussionsprozess der letzten Monate thematisiert worden. In der Online-Diskussion zur Charta verwies Benedikt Nerger von Bezev, Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V., auf den deutschen „Aufholbedarf“ in behindertenpolitischen Fragen. Die in der UN-Konvention formulierten Rechte für Menschen mit Behinderung seien auch hier weit von einer allumfassenden Anwendung entfernt. Das Bildungssystem sei noch immer weitgehend exklusiv und die meisten öffentlich zugänglichen Informationen so wie Gebäude und Veranstaltungen noch immer nicht barrierefrei.
In ihrer Rede bekannte sich Merkel zu der politischen Verantwortung gegenüber den Zielen der Zukunftscharta: „Unsere internationale Glaubwürdigkeit hängt davon ab, ob wir die eingeforderten Prinzipien auch selbst leben“.
Es bleibt spannend zu beobachten, ob diesem Bekenntnis auch Taten folgen. Die Behindertenbewegung wird mit kritischem Blick prüfen, ob die Forderungen der Zukunftscharta zur Inklusion umgesetzt werden – weltweit und bei uns in Deutschland.