Am 18. August befasste sich der Gemeinsame Bundesausschuss des Bundestages mit der Einführung eines vorgeburtlichen Bluttests zur Feststellung von Trisomie 21. Dieser Test würde dann zur regulären Kassenleistung werden. Was in der Theorie wie eine vernünftige Entscheidung aussieht, ist für Betroffene längst nicht vernünftig.
Der Arzt schaut mit ernstem Gesicht. Zu schlecht sind die Nachrichten, die er den Eltern mitzuteilen hat: Silvana hat nur eine Lebenswartung von wenigen Tagen. Ihr Herz funktioniert nicht richtig, ihre Speiseröhre ist nicht mit dem Magen verbunden, um überhaupt existieren zu können, benötigt sie Sauerstoff. „Als ich das gehört habe, bin ich sofort nach Hause gefahren und habe meine anderen drei Kinder aus der Schule und dem Kindergarten geholt und bin mit ihnen ins Krankenhaus gefahren“, erinnert sich Jens Petershagen, Silvanas Vater. Obwohl nicht üblich, hatte der zuständige Oberarzt durchgesetzt, dass die Kinder mit auf die Intensivstation durften und gemeinsam Familienfotos gemacht werden konnten. Nach zwei Tagen war ihr kurzes Leben bereits zu Ende. Diese zwei Tage forderten von den Eltern alle Kraft, die sie nur aufbringen konnten. “Die Ärzte waren selbst sehr verwundert über die Stärke, die wir aufbrachten. Als Silvana dann in meinen Armen starb …”. Jens Petershagen, ein Mann von 40 Jahren, von großer Statur und festem Blick, schluckt und kann den Satz nicht beenden.
Dabei fing alles ganz normal an. Die Familie Petershagen bestand aus Mutter, Vater, einer Tochter und zwei Söhnen. Und dann hatte sich Nachwuchs angemeldet. In der neunten oder zehnten Woche stellte der Gynäkologe fest, dass irgendetwas mit dem Herzen des Fötus nicht in Ordnung war. Einen Monat später empfahl er eine Fruchtwasseruntersuchung, die Swetlana Petershagen machen ließ. Nach drei bangen Tagen das Ergebnis: Ihr Kind hat Trisomie 18.
Wenn plötzlich ein Strang zu viel vorhanden ist
Jeder Mensch besitzt 23 Chromosomenpaare, die das gesamte Erbgut enthalten. Die DNA ist eingelagert in diesen Strängen, die bei jeder Zelltei- lung an jede neue Zelle weitergegeben werden. Während das weibliche Ei sich entwi- ckelt, wird in seltenen Fällen das Chromosom 13, 18 oder 21 nicht wie üblich getrennt. Wird dieses Ei später befruch- tet, sind diese Chromosomen dann dreifach vorhanden. Dieser Defekt wird bei jeder Zellteilung weitergereicht. Man spricht in solchen Fällen von einer Trisomie. Die Bekannteste ist die Trisomie 21, das Down-Syndrom. Die Trisomie 13 wird nach ihrem Entdecker Pätau-Syndrom benannt. Die Trisomie 18 wurde erstmals 1960 von dem englischen Humangenetiker John Hilton Edwards beschrieben und trägt deshalb seinen Namen: Edwards-Syndrom. Die Trisomie 18 kann bei 3.000 Geburten einmal vorkommen.
Abbrechen oder nicht?
„Für uns ist eine Welt zusammengebrochen, als wir die Diagnose erfahren haben“, berich- tet Petershagen. „Wir haben bis dahin noch nie etwas davon gehört.“ Die Humangenetikerin klärte sie ausführlich auf, informierte sie auch über die Chancen, das Kind überhaupt lebend auf die Welt zu bringen. Ungefähr 90 Prozent der betroffenen Feten sterben bereits vor der Geburt. Die Kinder, die es auf die Welt schaffen, haben eine durchschnittliche Überlebenszeit von nur vier Tagen. Zehn Prozent der männlichen und 55 Prozent der weiblichen Kinder erleben den ersten Geburtstag und nach fünf Jahren leben noch 15 Prozent der Mädchen. In jedem Fall haben sie schwere Behinderungen. Es gibt etwa 150 dokumentierte Fehlbildungen bei der Trisomie 18.
Die Eltern Swetlana und Jens Petershagen mussten das erst einmal verarbeiten. Wer rechnet schon mit solch einer Nachricht. Die erste spontane Reaktion wäre wahrscheinlich bei jedem Menschen, die Schwangerschaft abzubrechen. Deshalb gibt es eine gesetzliche Pflicht des Nachdenkens, drei Tage nach der Diagnose darf kein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden.
Petershagen empfindet die Drei-Tages-Frist als viel zu kurz. „Man kann überhaupt keine rationale Entscheidung in dieser Zeit treffen.“ Diese Eile tut auch überhaupt nicht Not, die Schwangerschaft kann in diesem Fall ganz legal bis kurz vor der Geburt abgebrochen werden. „Im Allgemeinen ist es allerdings so, dass die Ärzte zum Abbruch drängen, leider“, bedauert er.
Weihnachten stand vor der Tür, die Petershagens haben noch drei Kinder, die ihrer Aufmerksamkeit und Zuwendung bedürfen und so riet die Humangenetikerin ihnen, zunächst das Fest zu verleben und sich ganz in Ruhe einer Entscheidung zu nähern.
Niemand darf sich da einmischen
Viele Gespräche, viele Emotionen. Die Eltern waren sich einig, dass sie die Kraft nicht aufbringen würden, um solch eine Schwangerschaft durchstehen zu können. Es gab eigentlich nur einen Weg.
Irgendwann wurde die Familie informiert: Unser Kind wird schwere Behinderungen in vielerlei Hinsicht haben. Die Überlebenschancen sind gering, wir wollen die Schwangerschaft abbrechen. Das verstand die Familie, man unterstützte sich seelisch und moralisch.
Aber die Zeit heilt nicht nur alle Wunden, sie ist mitunter auch ein guter Ratgeber. „Im Laufe der Wochen reifte besonders bei meiner Frau die Entscheidung: Ich kann das nicht, ich kann mein Kind nicht töten. Ich werde Silvana austragen.“ Wie, um ihre Aussage zu zementieren, unabänderlich zu machen, nannte sie ihr ungeborenes Kind Silvana. Den Namen hatte sie in einer Radiosendung gehört und er gefiel ihr gut. „Und so reifte dann die Entscheidung, dass wir Silvana austragen wollten“, betont Petershagen. Das „wir“ war ihm wichtig, wohl wissend, dass es die Kraft beider Elternteile bedürfte.
„Als wir uns dann aber um- entschieden hatten, kamen auch keine Einwände“. Die Familie akzeptierte die neue Entscheidung. „Das ist auch ganz wichtig, denn es ist eine sehr schwerwiegende Entscheidung“, erklärt Petershagen. „Mit ihr müssen die Eltern ihr Leben lang leben. Da hat kein Außenstehender das Recht, sich einzumischen, sei es die Familie, Freunde, Ärzte oder sonst jemand.“
Die Hoffnung wächst
Die Schwangerschaft verlief im Großen und Ganzen nor- mal. Die Elternhabensichso sehr gewünscht, dass Silvana es schaffen wird. Mit jedem Monat wuchs die Hoffnung, dass sie es lebend auf die Welt schafft. „Den Gefallen hat sie uns ja dann auch getan“, erzählt Petershagen. Im Klinikum Nord in Bremen bereiteten sich die Ärzte und Hebammen auf eine Risikogeburt vor. Ein Trisomie 18-Kind kommt dort nicht allzu häufig auf die Welt. Es wurde ein Geburtsplan aufgestellt und festgelegt, was nach der Geburt passieren soll. Silvana musste zwar nicht künstlich beatmet werden, aber sie benötigte Sauerstoff zur Unterstützung, „alles im palliativen Rahmen“, betont Petershagen. „Wir haben von vornherein eine intensiv-medizinische Versorgung abgelehnt.“
War es die richtige Entscheidung?
Das Ende war vorprogrammiert. Dennoch war es für die Familie wichtig, Silvana ken- nenzulernen und sich von ihr verabschieden zu können. Silvana wurde ein paar Wochen später beerdigt, der Vater geht jeden Tag nach seiner Arbeit an ihr Grab. Als Ehepaar hat sie diese Erfahrung zusammengeschweißt. „Wir haben alle Entscheidungen richtig getroffen und können gut damit leben. Dieses Gefühl hatten wir auch schon während der Schwangerschaft und der Geburt.“
Petershagen ist kein Abtreibungsgegner. „Wenn sich Eltern nach reiflicher Überlegung für einen Abbruch entscheiden, ist das natürlich in Ordnung. Wir nehmen uns nicht das Recht heraus, darü- ber zu urteilen, das steht uns nicht zu“, erklärt er. Allerdings habe er gelesen, dass „schon viele Menschen einen Abbruch bereut haben. Aber noch nie hat jemand bereut, ein Kind ausgetragen zu haben“.
Selbsthilfegruppe ist Teil der Trauerarbeit
Gemeinsam mit anderen be- troffenen Eltern hat Petershagen eine Plattform www. Trisomy18.eu geschaffen. „Es gibt viel zu wenig Informationen über Trisomie 18. Es ist ein Tabu-Thema, das totgeschwiegen wird. Wenn eine Schwangerschaft ansteht, freuen sich alle auf ein gesundes Kind. Aber was ist, wenn das Kind mal nicht gesund zur Welt kommt? Das ist ein Thema, das in der Öffentlichkeit viel zuwenig behandelt wird.“
Die Frage, Abbruch oder nicht ist eine sehr individuelle und einsame Entscheidung. Die wird auch diese Selbsthilfegruppe nicht treffen können. Aber sie können mit Erfahrungen aus der eigenen Entwicklung betroffene Eltern helfen können.