Birgit Stenger hat Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin und Sozialpädagogik/-arbeit an der Ev. Fachhochschule Berlin studiert. Seit 1994 war sie in der Beratung behinderter Menschen und ihrer Angehörigen aktiv. Seit 2004 gibt sie regelmäßig Vorträge und leitet Workshops zu den Themen Persönliche Assistenz, Arbeitgeber-Modell und persönliches Budget. Für die Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen (ASL e.V.) ist Birgit Stenger bereits seit 1994 aktiv.
Frau Stenger, 1992 wurde der Verein „Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen e.V.“ gegründet – was waren damals die Gründe und sind sie es heute auch noch?
Die ASL e. V. wurde 1992 von assistenzbedürftigen Menschen gegründet, denen von den ambulanten diensten e.V. Assistenten und Assistentinnen vermittelt wurden. Die Assistenten nannte man damals Helfer und die assistenzbedürftigen Menschen nannte man Hilfenehmerinnen und -nehmer. Die Helferinnen und Helfer arbeiteten als Honorarkräfte, das heißt sie mussten sich selbst kranken-, renten-, arbeitslosen- und unfallversichern, aber auch ihr Honorar versteuern.
Das Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg stellte 1992 nach einer Prüfung der ambulanten dienste e.V. fest, dass es sich bei der Tätigkeit der Helfer um eine weisungsgebundene und damit abhängige Beschäftigung handelt. In der Folge mussten die Helferinnen und Helfer fest angestellt werden. Dies wiederum bedeutete, dass Kündigungsfristen eingehalten werden mussten. Bis zu diesem Zeitpunkt war es möglich, das „Beschäftigungs“-Verhältnis sowohl von Seiten der Helferinnen als auch der Hilfenehmer von einen Moment auf den anderen zu lösen. Eine Möglichkeit, die vielen Hilfenehmern sehr wichtig war, weil sie sich nicht vorstellen konnten, sich von Helferinnen und Helfern, mit denen sie sich nicht mehr wohlfühlten, z. B. im Intimbereich pflegen zu lassen.
Nach der Entscheidung des Finanzamtes suchten wir nach einer Alternative, die unserem Interesse gerecht wurde; wir wollten so viel wie möglich Einfluss auf die Personalauswahl haben, um Kündigungen möglichst zu vermeiden. Diese Alternative sahen wir im Arbeitgebermodell. Die Situation hat sich heute dahingehend geändert, dass die Assistenten und Assistentinnen in der Regel sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, sei es bei den Diensten oder den behinderten Arbeitgebern. Nicht verändert hat sich unser Wille, so viel wie möglich Einfluss auf die Personalauswahl zu haben.
Sie beraten zu Persönlicher Assistenz – was ist das und wo liegen die Unterschiede zur herkömmlichen Pflege und Betreuung durch Pflegedienste?
Persönliche Assistenz wird in Berlin als Leistung der Hilfe zur Pflege erbracht und in Form des jeweils gültigen Stundensatzes des Leistungskomplexes (LK) 32 vergütet. Persönliche Assistenz sind laut LK 32 die am individuellen Bedarf orientierten Hilfen bei den täglichen Verrichtungen, bestimmt durch die Lebensrealität der auf Assistenz angewiesenen Menschen, die eine kontinuierliche Arbeitstätigkeit erforderlich macht und deren Ausdifferenzierung in Einzelleistungen nicht sinnvoll ist. Dies insbesondere, weil nicht planbare pflegerische Leistungen im großen Umfang parallel zu anderen Leistungen anfallen. Persönliche Assistenz dient der eigenständigen Gestaltung des Alltags in der eigenen Wohnung bzw. in einer selbstgewählten Umgebung. Sie ist eine von behinderten Menschen bewusst gewählte Versorgungsform und kann nicht gegen deren Willen angewendet werden.
Insbesondere sind dies Hilfen im Bereich der Pflege, Hilfen im Haushalt, Mobilitätshilfen, oder Kommunikationshilfen. Entscheidendes Kriterium der persönlichen Assistenz ist das Recht des auf Assistenz angewiesenen Menschen, des Assistenten oder die Assistentin selbst anzuleiten und die Arbeitsinhalte und -umstände zu bestimmen: Dazu gehört, selbst zu bestimmen, welcher Assistent die Arbeiten ausführt, welche der genannten Arbeiten verrichtet werden, außerdem wann, wo und wie sie verrichtet werden.
Der Unterschied zur herkömmlichen Pflege und Betreuung durch Pflegedienste liegt also darin, dass den Assistenznehmerinnen und -nehmer Entscheidungsbefugnisse, aber auch -kompetenzen zugesprochen werden.
Viele Menschen wissen wahrscheinlich nicht, dass behinderte Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sein können. Sie waren die erste, die in Berlin Persönliche Assistenz nach dem Arbeitgebermodell praktiziert hat. Können Sie beschreiben, wie das funktioniert?
Die freie Wahl der Assistenzperson durch den assistenzbedürftigen Menschen bedeutet für den behinderten Arbeitgeber und die behinderte Arbeitgeberin, dass sie für die Suche nach geeignetem Personal selbst verantwortlich sind. Dies geschieht entweder über Mund-zu-Mund-Propaganda, über Anzeigen in Zeitungen oder auf den entsprechenden Internetseiten.
Auf die Anzeigen folgen Bewerbungsgespräche, sollten diese zufriedenstellend verlaufen, kommt es zur Unterzeichnung des Arbeitsvertrages. Sowohl in Hinblick auf die Anzeigen als auch auf die Bewerbungsgespräche ist es notwendig, dass die behinderten Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen klar formulieren können, welche Aufgaben zu erledigen sind. Für den behinderten Arbeitgeber bzw. die behinderte Arbeitgeberin besteht nicht nur die Verpflichtung, den Dienstplan zu erstellen, sondern auch die Urlaubs- und Krankheitsvertretungen verantwortlich zu organisieren.
Voraussetzung für einen Antrag beim zuständigen Kostenträger auf selbstorganisierte persönliche Assistenz nach dem Modell der behinderten Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberinnen ist die Kalkulation der Kosten. ASL e. V. erstellt diese Kalkulation gemeinsam mit dem assistenzbedürftigen Menschen und vermittelt Kontakte zu Lohnbüros, die behilflich sind bei der Beantragung der Betriebs- und Steuer-Nr., aber auch bei der Anmeldung der Assistenten und Assistentinnen bei den zuständigen Krankenkassen. Unfallversichert sind die Assistenten und Assistentinnen über die Eigenunfallversicherung des Landes Berlin. Monatlich erhält das Lohnbüro vom behinderten Arbeitgeber eine Mitteilung der für die Kostenabrechnung relevanten Daten.
Sie haben einen Verein gegründet, sich über die Beratung zum Arbeitgebermodell selbst eine Tätigkeit geschaffen, Projekte initiiert und dafür Gelder akquiriert – sehen Sie diese Erfahrungen auch weiterhin als gute Möglichkeit für junge Menschen mit Behinderung, an Arbeit teilzuhaben?
Als Sozialarbeiterin, Peer-Counselorin und systemische Familienberaterin erledige ich seit dem 15. November 1995 meine Arbeit – gewissenhaft und in der Regel zur Zufriedenheit der Klientinnen und Klienten. Wahrscheinlich aufgrund meines Alters weiß ich nicht, was Sie mit der Formulierung „an Arbeit teilhaben“ meinen. Ich kenne nur Menschen mit Behinderung, die eine Arbeit haben oder nicht. Hier geht es ihnen wie Menschen ohne Behinderung.
Der Weg, den wir gehen mussten, um das Geld für die Entlohnung unserer Arbeit zu bekommen, halte ich nicht für eine „gute Möglichkeit“, sondern für eine Notlösung. Junge Menschen mit Behinderung haben nur dann gute Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, der ihrer Qualifikation entspricht, wenn die in allen Bereichen unserer Gesellschaft bestehenden Vorbehalte gegenüber Menschen mit Behinderungen tatsächlich einmal abgebaut werden würden.
In diesem Jahr finden im September die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus statt – welche politischen (Richtungs-)Entscheidungen wünschen Sie sich für die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsmarkt?
Ich wünsche mir, dass assistenzbedürftige Menschen ihren Anspruch auf bedarfsgerechte Assistenz ohne Kampf und Klage geltend machen können. Sollten sie die Assistenz benötigen, um ihren beruflichen Tätigkeiten nachzugehen, sollte sich das Land Berlin dafür einsetzen, dass sie das Geld, das sie verdienen, nicht nur bekommen, sondern auch behalten dürfen. Eine politische Richtungsentscheidung des Landes Berlin müsste auf eine bedarfsgerechte, aber auch einkommensunabhängige Assistenz gerichtet sein, damit sie meinen Wünschen entspricht.
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