„Projekt Wohnheime“, „Umstellungsbegutachtung“, „Hammerschick Projekt“. Diese Begriffe werden derzeit in der Behindertenhilfe im Bereich der Wohnheime für Menschen mit Behinderung diskutiert. Was aber verbirgt sich hinter ihnen? Welche Bedeutung haben sie für die betroffenen Menschen und wie geriet die mitunter auffällige Emotionalität in die derzeitige Debatte?
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In 2006 verabredeten die Verbände mit dem Land Berlin ein Projekt, das die Neukalkulation der Vergütungen bei (unterstellter) gleicher Leistung vorsah. Damals bestehende große Preisdifferenzen zwischen einzelnen Angeboten waren nicht erklärbar.
Das „Hammerschick Projekt“ (2007-2009) unter Federführung von Jochen Hammerschick verfolgte daher den Abbau der Spreizung bei den Vergütungen.
So kam es zu der Entwicklung eines Soll-Konzeptes „Wohnen“ und „Tagesstruktur“ mit Unterlegung von Zeitwerten auf Basis von Zeitaufschrieben in 2007 bei 1.007 von 2.755 in das Projekt eingebundenen Bewohner an sieben Werktagen. Die dokumentierten Zeiten nutzte Hammerschick als Datenbasis und leitete aus den bis dato bestehenden fünf Hilfebedarfsgruppen sechs Leistungsgruppen ab.
Unabhängig von den Hammerschickstudien und auf Initiative des Landes Berlin im Frühjahr 2010, verständigten sich Land und Verbände noch im laufenden Jahr eine Umstellungsbegutachtung aller Bewohner der Wohnheimen durchzuführen und damit die aktuelle Hilfebedarfsgruppensystematik nach dem H.M.B.-W-Verfahren mit fünf Hilfebedarfsgruppen in ein H.M.B.-W.-Verfahren mit sechs Leistungsgruppen überzuleiten. Beim H.M.B.-W-Verfahren handelt es sich um ein in den 1990iger Jahren vom „Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen (Z.I.E.L.)“ in Tübingen entwickeltes Hilfebedarfsfeststellungsverfahren für Menschen mit Behinderung im Lebensbereich „Wohnen“. Die Abkürzung steht für „Hilfebedarf von Menschen mit Behinderung – Wohnen“.
Die Beauftragung eines externen Gutachters war vorgesehen. Auf die EU-weite Ausschreibung folgte lediglich eine Bewerbung der Bietergemeinschaft, bestehend aus der ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH, Transfer – Unternehmen für soziale Innovation (Inhaber: Herr Schmitt-Schäfer) sowie Prof. Erik Weber (Universität Koblenz-Landau).
Die Umstellungsbegutachtung aller mittlerweile rund 3.200 Bewohner erfolgte durch Herrn Schmitt-Schäfer und in der Mehrzahl durch angelernte Studenten aus dem Bundesgebiet innerhalb nur weniger Wochen im Jahr 2010. Vorab wurde ein „Leitfaden zur Anwendung des H.M.B.-W-Verfahrens“ entwickelt. Dieser gibt vor, wie die Begutachtung durchgeführt werden soll und nach welchen Kriterien Hilfebedarfe erhoben werden. Die Begutachtung mit Hilfe des „Schmitt-Schäfer-Leitfadens“ wurde mit den Verbänden nicht diskutiert und ist umstritten. Um der höchsten Hilfebedarfskategorie zugeordnet zu werden, müssen die Bewohner nach dem „Schmitt-Schäfer-Leitfaden“ sogenannte „S.M.A.R.T Kriterien“ erfüllen.
S.M.A.R.T. ist ein Akronym für „spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert“ und dient z. B. im Projektmanagement, aber auch im Rahmen der Führung Mitarbeitender und in der Personalentwicklung, als Kriterium zur eindeutigen Definition von Zielen im Rahmen einer Zielvereinbarung.
Dies auf schwerst-mehrfachbehinderte Menschen und Menschen mit Komorbidität anzuwenden ist nicht möglich, weil die Anwendung der S.M.A.R.T.-Kriterien bezogen auf die Bedarfe diese Menschen (Menschen mit schwerstmehrfach Behinderungen, mit Doppeldiagnosen, etc.) unterkomplex ist, d. h. diese Bedarfe sind mit Hilfe von S.M.A.R.T-Kriterien nicht abbildbar.
Die Beauftragung der Bietergemeinschaft sowie die Umstellungsbegutachtung mit Hilfe des „Schmitt-Schäfer-Leitfadens“ waren mit den Verbänden nicht vereinbart. Dessen ungeachtet und trotz anhaltender Kritik der Verbände der freien Wohlfahrtspflege, der Einrichtungsträger und der Elternvereine, wurde die Umstellungsbegutachtung aller Wohnheimbewohner anhand des vorgegebenen „Schmitt-Schäfer Leitfadens“ durchgeführt und die Umstellung der Wohnheime in 2011 auf das neue System mit den Leistungstypen „Wohnen“ und „Tagesstruktur“ vollzogen.
Die befürchtete Benachteiligung schwerst-mehrfachbehinderter Menschen und Menschen mit Komorbidität aufgrund der Begutachtung nach dem H.M.B.-W.-Verfahren mit Hilfe des „Schmitt-Schäfer-Leitfadens“ trat ein. Es folgte eine überdurchschnittlich starke Absenkung der Hilfebedarfe von der Hilfebedarfskategorie D nach C. Dieser bis heute anhaltende Missstand wird von den Verbänden stark kritisiert.
Durchführung der Konvergenzphase I
Die Einrichtungsträger erhielten mit Wirkung vom 01.05.2011 neue Vertragsangebote, die auf deren einzelvertraglich vereinbarten Betreuungs- oder Leistungszeiten basierten. In 2012 und 2013 wurde schließlich die erste Konvergenzphase gemäß Beschluss 02/2011 der Ko 75 umgesetzt. Das Kürzel Ko 75 steht für die Berliner Vertragskommission für Soziales. Dieser sah die schrittweise Anpassung auf die rahmenvertraglichen Soll-Leistungszeiten bei den Einrichtungsträgern vor. Das Hammerschick-Modell führte damit zu „Verlierern“ und „Gewinnern“. Die Leistungszeiten, die den „Verlierern“ gekürzt wurden, erhielten die „Gewinner“.
Dieser Prozess war von Protest der Elternvereine begleitet. Unterstützt vom Paritätischen Berlin, vereinbarten diese in 2011 mit dem Land Berlin eine Evaluation der Hammerschickstudien, der Hilfebedarfsermittlung unter Anwendung des „Schmitt-Schäfer-Leitfadens“, der internen und externen Tagesstruktur und weiterer Themen. Dies war Bedingung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege für ihre Zustimmung zur ersten Konvergenzphase. Ziel der Evaluation war die Überprüfung der Nachhaltigkeit und Angemessenheit des Systems anhand inhaltlich-fachlicher, finanzieller und verfahrenstechnischer Komponenten. Die Gesellschaft für Beratung Bildung und Innovation (BBI GmbH) wurde nach einem nationalen Vergabeverfahren beauftragt, die Evaluation in 2013 durchzuführen. Infolge der eindeutigen Ergebnisse der Evaluation sollte die in 2014 ausgesetzte Konvergenzphase II, wie zwischen dem Land Berlin und den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege per Beschluss 2/2011 vereinbart, erst nach Bearbeitung aller sechzehn Empfehlungen der BBI fortgesetzt werden.
Einseitige Fortsetzung der Konvergenzphase II
Trotz anderslautender Beschlusslage setzte die Senatsverwaltung einseitig die 2. Phase der Konvergenz zu Beginn 2016 fort. Weshalb wurde jedoch vor Umsetzung der 2. Konvergenzphase eine Evaluation in Auftrag gegeben, wenn die Ergebnisse dieser eigens durch das Land Berlin in Auftrag gegebenen Evaluation des Hammerschick Projektes derzeit komplett außer Acht gelassen werden? Diese Frage muss gestellt werden, insbesondere vor
dem Hintergrund des Beschlusses 2/2011 unter Punkt 3b Teil II der Ko 75: „Weitere einrichtungs- –bzw. trägerbezogene Konvergenzverträge werden für den Vereinbarungszeitraum 1.1.2014-31.12.2017 auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der Evaluation geschlossen.“
Zusammenfassende Bewertung
Die Entwicklung in Berlin geht in die falsche Richtung und verleugnet Art. 19 der UN-BRK. Menschen mit Behinderungen haben demnach „…ein Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (…) und sollen (…) gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben.“
Berlin verfügt über ein bewährtes Hilfesystem, das es zu erhalten gilt. Die gemeinsame Bearbeitung und Einigung über offene Fragen würde dies ermöglichen und ist dringend erforderlich. Bisher ist jedoch das Gegenteil der Fall. Seit zwei Jahren werden die Evaluationsergebnisse nicht bearbeitet, das Vorgehen ist für die Spitzenverbände, Träger und Angehörige intransparent und nicht nachvollziehbar.
Der Paritätische möchte die Interessen der verschiedenen Beteiligten und betroffenen benachteiligten Menschen vertreten und schlägt folgendes Vorgehen vor:
1. Beginn bzw. Intensivierung der Bearbeitung der Evaluationsergebnisse durch die entsprechenden Gremien der Ko 75 und anderer verantwortlicher Gremien;
2. Einigung auf eine verbindliche Zeitplanung, die die abschließende Bearbeitung aller offenen Fragen bis Ende 2016 vorsieht;
3. Bei Bedarf Einbeziehung externer Ressourcen im Auftrag und Steuerung der Gremien zur Prozessbeschleunigung;
4. Erhalt von bewährten Strukturen im Versorgungssystem z.B. durch Berücksichtigung der Festlegung in Beschluss 2/2011.
Letztendlich geht es um die Interessen von durch Behinderung benachteiligter Menschen, die ein Recht auf adäquate Betreuung haben. Intention des Paritätischen ist es daher, die Verständigung über Realisierungsmöglichkeiten zu konkretisieren und natürlich ebenso konkrete Lösungen für die Einrichtungen zu finden, denen im Zuge der beabsichtigten Optimierung der Behindertenhilfe die Möglichkeit genommen wird, ihr bewährtes Angebot für die Betroffenen aufrecht zu erhalten.